... zugeritten in manchen sprachen ...
 
Über Werk und Wirkung des Dichters und Vermittlers Rainer Maria Gerhardt
 


Die folgenden Seiten wollen Sie über einen "vergessenen Dichter" informieren:

1.  Das Leben des Rainer M. Gerhardt 5.  Der Briefwechsel: Gerhardt - Olson
2.  Zeitgeschichtliche Hintergründe 6.  Poetologie
3.  RMG - Dichter und Vermittler 7.  Das Nachleben eines Dichters
4.  Charles Olson - Freund/Partner/Lehrer 8.  Literaturverzeichnis
    A., B. und C. (schwören es zusammen): Müde vom Durchwandern öder Letternwüsten, voll leerer Hirngeburten, in anmaaßendsten Wortnebeln; überdrüssig ästhetischer Süßler wie grammatischer Wässerer; entschloß ich mich: Alles, was je schrieb, in Liebe und Haß, als immerfort mitlebend zu behandeln! - - -
    20.9.1958 / Darmstadt i.d. Barbarei
    A r n o   S c h m i d t
Der dies schrieb, schrieb auch eine Erzählung für das Vergessen: Tina oder über die Unsterblichkeit. Es ist die Vision eines Elysiums, in dem alle verweilen müssen, derer auf Erden noch gedacht wird. Der Aufenthalt wird als Qual erlebt. Zu Beginn fällt dem Erzähler das Wort 'Schichtunterricht' ein. Angesichts dieses Wortungetüms entfährt ihm ein Stoßseufzer: "Rainer M. Gerhardt bitt für uns!" Er erinnert sich damit eines Dichters, der, inzwischen vergessen, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte, der deutschen Sprache und der literarischen Tradition einen Anschluß an die Weltliteratur zu verschaffen.

Zuerst mit hektographierten Heften, später mit einer Zeitschrift und einer Taschenbuchreihe versuchte Gerhardt den Lesern im Nachkriegsdeutschland eine erste Vorstellung davon zu geben, zu welchen Ergebnissen die Dichtung außerhalb Deutschlands gelangt war. Gleichzeitig versuchte er, die neue Dichtung mit der Tradition, wie sie ihm insbesondere in den Gestalten von Gottfried Benn und Ernst Robert Curtius begegnete, zu verbinden. Dies war ein für die damalige Zeit ungeheures Vorhaben. Das Konzept, seine Voraussetzungen, sein 'fragmentarisches' Gelingen und sein Scheitern sollen im folgenden darstellt werden.

Es erscheint dies um so nötiger, als Gerhardt fünfundvierzig Jahre nach seinem Tod in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung immer noch ein fast Unbekannter ist. Die sich um sein Werk bemüht haben, sind wenige. Die bedeutendste Arbeit, die hier zu erwähnen ist, ist eine Dokumentation von Helmut Salzinger und Stefan Hyner, die 1988 erschien. Sie wird in Kapitel 7 genauer vorgestellt. Im Herbst 1992 erschienen in der Stuttgarter Literaturzeitschrift Flugasche sechs Gedichte.

In einem ersten Kapitel werden die Lebensumstände Gerhardts umrissen, so wie sich sich aus den Zeugnissen seiner Freunde ergeben. Da Leben und Werk dieses Mannes stark von der Zeit geprägt wurden, erscheint es mir unerläßlich, die zeitgenössischen Literaturverhältnise, in denen er seine Arbeit begann, in einem kleinen Panorama vorzustellen, das gleichzeitig die Folie ist, vor der die Bedeutung und Andersartigkeit dieses Werkes zu sehen ist.

Das dritte Kapitel bildet das Kernstück der vorliegenden Arbeit. Es stellt den Dichter und Vermittler Rainer M. Gerhardt und seine Arbeit vor.

Schon bald konnte man in allen Bemühungen des jungen Deutschen eine Orientierung hin zum anglo-amerikanischen Sprachraum erkennen. Das Werk Ezra Pounds bildete hierfür den Ausgangspunkt. In Charles Olson fand er gleichzeitig einen Freund und Lehrer, der den Blick über die abendländische Tradition hinaus lenkte. Die Kapitel 4 - 6 versuchen, diese Partnerschaft zu beschreiben, deren Höhepunkt in einem poetischen Briefwechsel (vgl. Kapitel 5) zu sehen ist.

In einem letzten Kapitel werden kurz vergleichbare Arbeiten vorgestellt, die Impulse von Gerhardts Bemühungen aufnahmen und weiterführten.

Ein nicht unwesentliches Problem dieser Arbeit ist die Tatsache, daß die Texte, von denen die Rede ist, nur sehr schwer greifbar sind. Es ist aber unverzichtbar, sich von einigen wichtigen Arbeiten Rainer Maria Gerhardts einen Gesamteindruck zu bilden, um die folgenden Ausführungen verstehen und kritisch begleiten zu können. Aus diesem Grund werden sie in einem Anhang zitiert. Dem gleichen Zweck dienen die z.T. ausführlichen Zitate. Die oft eigenwillige Rechtschreibung und Zeichensetzung Gerhardts wie auch Creeleys und Olsons wurde beibehalten.

Nach dem Tod Rainer M. Gerhardts übernahm seine Mutter Margarete Bente das Erbe. In einem Rundschreiben an die Geschäftspartner des Verlages schrieb sie:

"Renate Gerhard schlug für sich und die Kinder das Erbe aus, da um die Zeit des Todes meines Sohnes keine eheliche Gemeinschaft mehr bestand und sie selbst mir durch ein Schreiben bekannt gab, dass sie mit dem Nachlaß nichts mehr zu tun haben wollte. - Da ich als Mutter meine Verpflichtung darin sah, das an mich gegangene Erbe anzunehmen, so möchte ich deshalb nochmals betonen, dass Frau Gerhardt somit das Recht verlor, in irgendeiner Weise im Namen meines Sohnes oder des Verlages der Fragmente zu verhandeln."

1962 gründete Renate Gerhardt in Berlin den Gerhardt Verlag. Es erscheint Henry Millers Ganz wild auf Harry. Ein Melo-Melo in 7 Szenen. Die Orientierung des Fragmente Verlages an amerikanischer Literatur wird allerdings nicht weitergeführt. Der Schwerpunkt liegt in Zukunft bei den Autoren der französischen Moderne.

Die Rechte an Rainer M. Gerhardts Werken liegen heute zu je einem Drittel bei den Söhnen Ezra und Titus und dem Mann der verstorbenen Margarete Bente.

Einen Grund für die Tatsache, daß das Werk Gerhardts nicht oder nur sehr unzureichend bekannt ist, sehen Stefan Hyner und Helmut Salzinger in dem Verhalten der Gerhardt-Erben:

"Es ist nun vierunddreißig Jahre her, in welcher Zeit der Name Rainer M. Gerhardt ziemlich (oder besser: unziemlich) in Vergessenheit geraten ist. Seine Publikationen sind vergriffen, und kaum eine öffentliche Bibliothek besitzt sie. Kein literarisches Lexikon weiß auch nur seinen Namen. Seine Person und sein Werk sind nahezu, aber eben doch nicht ganz vergessen, und inzwischen gibt es Gründe genug, sich seiner zu entsinnen.
Absurderweise sind es ausgerechnet die Besitzer von Gerhardts Nachlaß und allen sich aus ihm ergebenden Rechten, die dem entgegenwirken. Sie wollen nicht, daß an Rainer M. Gerhardt erinnert wird. Auch nur seinen Namen zu nennen, ist ihnen unerwünscht. Es hat den Anschein, als versuchten sie systematisch, sein Andenken zu unterdrücken, indem sie jeden, der den Versuch unternimmt, an R.M. Gerhardt zu erinnern, bei seiner Arbeit behindern. So erhebt sich der Verdacht, daß es seit jeher die Gerhardt-Erben gewesen sind, die auf diese oder jene Weise für das Verschwinden Gerhardts aus dem Gedächtnis die Verantwortung zu tragen haben."

Es gibt Anlässe und Gründe genug, sich seiner zu erinnern. Die Voraussetzungen haben sich geändert. In den vergangenen dreißig Jahren gab es vielfältige Bestrebungen, das, was tradiert ist, und das, was an Neuem geschaffen wird, zusammenzuführen. Hinzu kommt eine Offenheit, die bereit ist, nicht nur überlieferte Inhalte und Formen zu benutzen, sondern auch solche, die bisher suspekt waren. Film, primitive Kunst, Kunst-Handwerk: Es gibt im Vermittlungsprogramm Gerhardts eine Pluralität, die heute Alltag ist, zu seiner Zeit aber noch nicht durchsetzbar war. Diese Vielfalt mußte eine Gesellschaft beunruhigen, die darauf aus war, einen neuen Halt in einem sicheren Weltbild zu finden. Auch die Kritik der alten Ideologien war keine Infragestellung, sondern Suche nach einem sicheren Grund.

Betrachtet man die Zeit jedoch aus einem weiteren Blickwinkel, so wird deutlich, daß die gesellschaftskritischen Attacken der jungen Autoren über ein Defizit an Weltbildern nur hinwegtäuschten. Böll  griff die Spießermoral, die neuen Aufsteiger, Verfallsformen des Katholizismus an - weiter als bis zu den Tabuzonen der Gesellschaft jedoch reichte auch seine Literatur nicht. Sie konnte nicht weiter reichen, so wird heute deutlich, die Zeit der durch Weltbilder, Weltentwürfe geprägten und durch sie herausgeforderten Literatur war endgültig vorbei.

Rainer Maria Gerhardt geht weiter als die in Kapitel 2 vorgestellten Literaturkonzeptionen der Nachkriegszeit, da er der Einheit der Entwürfe die Vielfalt gegenüberstellt und so erstmals in Deutschland ein Projekt vorstellt, das erst aus heutiger Sicht gewürdigt und wohl "postmodern" genannt werden kann.

Die vorliegende Arbeit stellt sich die Aufgabe, dieses Unternehmen vorzustellen, soweit es rekonstruierbar ist. Mein Versuch ist ein im traditionellen Sinn positivistischer, dem es nicht um Wertung, sondern Darstellung geht. Eine Lücke in der Literaturgeschichte, wie groß oder klein sie sein mag, soll geschlossen werden.

In seiner Rezension der fragmente gibt Anselm Hollo einen Ausblick auf die Zukunft der Werkes Rainer M. Gerhardts:

"Of course anthologies will be published, and he will appear in them, except for the english ones (he said that thing about 'carefully nurturing private emotions,' didn't he?), and people will nod their hands and say, 'Oh yes, he was one of the first, wasn't he, in our country, to...' this or that, as if, as if what he started, wanted, became part of, would be finished and furnished now, ready for occupation by those Lit.fans he detested, over and done with ... Ach, ja."

Augsburg, im Mai 1999