ZEITGESCHICHTLICHE HINTERGRÜNDE

2.1 Der 'Neubeginn' nach 1945

Auf die Ereignisse des Mai 1945 gaben die Deutschen keine Antwort. Die Antwort gaben die Alliierten, indem sie die politische Gewalt ausübten. Man erachtete es für notwendig, Deutschland nicht nur politisch-ökonomisch zu erneuern, sondern auch ideologisch. Daß die Siegermächte hierbei unterschiedliche Wege gingen, steht auf einem anderen Blatt und braucht in diesem Rahmen nicht diskutiert zu werden. Entnazifizierung und Reeducation gingen dabei Hand in Hand.

Auf welch eine moralische und politische Geisteshaltung konnte dabei aufgebaut werden? In ihrem Werk Die Unfähigkeit zu trauern versuchen Alexander und Margarete Mitscherlich eine Antwort auf diese Frage zu geben.

Es war eine blitzartige Wandlung, die man nicht jederman so mühelos zugetraut hätte. Durch Jahre war die Kriegsführung und waren die Kriegsziele der Naziführer mit minimaler innerer Distanz bejaht worden, Vorbehalte blieben jedenfalls ohne Auswirkung. Nach der vollkommenen Niederlage kam die Gehorsamsthese auf, plötzlich waren nur noch die unauffindbaren oder abgeurteilten Führer für den in die Tat umgesetzten Völkermord zuständig. 1)

Gleichzeitig suchte man nach neuen Identifikationsfiguren, die den erlittenen Verlust 2) ersetzen sollten. Im Jahre 1950 erreichten bei einer Umfrage nach den 'am meisten verehrten Deutschen' Bismarck 35%, Hitler 10%, Friedrich der Große 7%, die demokratischen Politiker insgesamt  6% der Stimmen 3).

Eine andere Möglichkeit, von der Vergangenheit abzulenken, war der sogenannte 'Königsweg', »der ständige Blick über die Elbe«). Der Anti-Kommunismus sollte über Jahre hinweg die bestimmende Ideologie der Bundesrepublik bleiben. Diesem Weg, zu einem neuen Ideal zu gelangen, erteilt Rainer Maria Gerhardt in einem Brief an Charles Olson eine entschiedene Absage.) Der dritte Ausweg war die gezielte Konzentration auf das, was in späteren Jahren das 'deutsche Wirtschaftswunder' genannt werden sollte: Der ökonomische Erfolg trat an die Stelle des libidinös besetzten Führer-Ich-Ideals. Wirtschaftlicher Fortschritt und Wohlergehen waren Werte, mit denen man sich nun (ab der ersten Hälfte der fünfziger Jahre) identifizieren konnte. 4) Eine wirklich an die Wurzeln gehende Selbstbesinnung wurde nicht geleistet, die Neuorientierung blieb äußerlich, von materiellen Gesichtspunkten geleitet.

Vielleicht gilt für das ganze deutsche Volk, was Jan Philipp Reemtsma in einer Rede über Firmen gesagt hat, die während der Zeit des Nationalsozialismus Zwangsarbeiter in KZs beschäftigt hatten:

Sie fühlen sich resozialisiert. Sie haben eine Bundesrepublik Deutschland errichtet und sich dabei bewährt. Sie haben sowas gezeigt wie tätige Reue. Tätig sind sie gewesen und haben es nicht bereuen müssen. Verdienstvoll ist ihr Handeln gewesen. Man nenne es nicht Amnesie. Die Psychologie entlasse sie, denn sie wissen, was sie tun, und es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen. Man nenne es nicht Amnesie, worauf die Bundesrepublik gegründet ist, dieses kleinere Übel, wie sie in diesen Jubiläumstagen oft genannt worden ist, dieses gernegroße Gemeinwesen. (...) Von Amnesie spreche man dort nicht, wo es nicht einmal um Amnestie gegangen ist, die bekanntlich eine Strafverfolgung voraussetzt.5)

Nach der Meinung Rainer M. Gerhardts gab es 1945 keinen Bruch, sondern nur eine Fortsetzung der alten Politik mit neuen Mitteln:

zwischen der gegenwärtigen regierung und der regierung hitlers besteht nur ein unterschied des grades und niemals ein solcher der art. das sind deutsche politics.6)
 

2.2 Zur literarischen Situation 1945 - 1954

2.2.1 Die Situation im Medienbereich 7)
 
Einige Monate nach der Kapitulation erschienen die ersten 'neuen' Tagezeitungen (zwischen Juli und September 1945: 155). Rundfunksender nahmen ihre Arbeit (zumeist als Sender der jeweiligen Militärregierungen) wieder auf. Die ersten Buchtitel waren: Theodor Plivier, Stalingrad; Ernst Wiechert, Der Totenwald; Werner Bergengruen, Dies irae; Rudolf Hagelstange, Venezianisches Credo; Albrecht Haushofer, Moabiter Sonette. Die sprechenden Titel der ersten Kulturzeitschriften lauteten: Die Sammlung, Die Besinnung, Die Fähre, Geist und Tat, Das goldene Tor, Horizont, Neues Abendland, Hochland, Wort und Wahrheit etc.

In zwei Jahren (1945-1947) erschienen ungefähr 5000 Bücher mit einer Auflage zwischen 10 und 15.000 Exemplaren. Es gab 2000 Buchhandlungen. Gemessen am heutigen Standard (über 60.000 Neuerscheinungen auf jeder Buchmesse) erscheinen diese Zahlen als äußerst dürftig. Bedenkt man aber die Schwierigkeiten, denen eine Buchpublikation zur damaligen Zeit unterworfen war, so kann man schon von einem regen kulturellen Leben sprechen. Ob dies ein nach vorwärtsgewandtes, progressives oder ein nach rückwärtsgewandtes, restauratives war, wird im nächsten Abschnitt etwas genauer untersucht. Die Verleger hatten um Lizenzen und Papierzuteilungen zu kämpfen. Sie verbrauchten dabei die Kräfte, die der direkten Arbeit an der Verbreitung moderner und schwieriger Literatur dann fehlten. Die Besatzungsmächte förderten die Verbreitung der ihnen wichtigen und genehmen Literatur durch großzügige Zuschüsse und Papierzuteilungen. Im Sinne der Reeducation wurden dabei solche Werke unterstützt, die eine 'Umerziehung' der westdeutschen Leser zu Demokraten im westlichen Sinne förderten.

Der 20. Juni 1948 bedeutete einen Wendepunkt auch für die Verbreitung von Literatur. Verlage, die bis zu diesem Zeitpunkt aufgrund ihres Programms stark expandiert hatten, waren naturgemäß solchen überlegen, die ihre ganze Existenz auf die Solidarität ihrer Leser setzen mußten. Den Gesetzen der freien Marktwirtschaft unterworfen, mußten sich viele Kleinverleger einen größeren, finanziell potenteren Partner suchen. Daß sie ihr Programm dabei zum überwiegenden Teil opfern mußten, war nur konsequent. Nachdem 1949 das Grundgesetz durch die Militärgouverneure genehmigt worden war, wurde auch die Lizenzpflicht der Presse aufgehoben. Das bisherige Monopol fiel, und die Zahl der Zeitungen stieg von 150 auf 500. Je größer die Zahl der Verlage, desto schwieriger wurde es künftig für kleine und unabhängige Unternehmen, in diesem Bereich Fuß zu fassen.

Wie sich die Situation auf dem Buchmarkt bzw. im gesamten Medienbereich für einen Kleinverleger in dieser Zeit (1952) darstellte, kann uns der bereits zitierte Brief Rainer M. Gerhardts an Charles Olson zeigen:

ich glaube mit fragmenten habe ich mir hier den hals umgedreht. die deutsche kritik hat totgeschwiegen. (...) - und man hat mich über die subventionen zum schweigen gebracht. ich brauchte und brauche subventionen, und die kann man hier von den broadcasts bekommen, oder von der industrie oder von den besatzungsmächten (...), aber ich bringe leider nicht die gewünschten autoren und dann bekommt man halt nichts. auch lege ich mich nicht auf eine politische linie (d.h. nicht auf eine ihnen gemässe) fest, und das ist die größte sünde.
(...)
alles, was sich gegen remilitarisierung wendet, wird als kommunistisch gebranntmarkt und fällt dementsprechend unter die verbote oder - die amerikanische methode - erhält keine staatskredite oder sonstige zuschüsse. nur wer gehorsam den wünschen der regierung folgt, erhält ihre unterstützung, das ist in der dichtung die idylle - sie lenkt von der problematik ab - im film die traumfabrik - jeder realistische film ist in westdeutschland verboten, das heisst, er kann gedreht werden, wenn sich jemand mit genügend geld dafür findet. kein deutscher film kommt ohne staatsbürgschaften aus, und der staat gibt solchen filmen keine. wird ein solcher film trotzdem gedreht, unterliegt er der freiwilligen filmselbstkontrolle, die sicher im interesse der staates entscheidet, selbst würde diese zustimmen, findet sich kein verleih, der den film übernähme, er würde keine staatsbürgschaften mehr bekommen. bei der presse ist es genau so, es gibt in westdeutschland keine zeitung, die die regierung und die gegenwärtige politik ernsthaft kritisiert, obwohl jedermann die furchtbarkeit und dummheit der gegenwärtigen politik sieht. (...)
das überragt zur zeit alles, das literarische leben verschwindet hinter diesem, und doch, man arbeitet weiter, als ob nichts geschehen wäre und nichts geschehen würde. man kann nichts tun. wir wollten so vieles tun, aber haben kein geld. es bleibt uns nur, so schnell wie möglich dieses land zu verlassen.
8)

So wie Gerhardt ging es vielen 9). Sie scheiterten sowohl an dem großen Anspruch ihres Programms, als auch an den für ein solches Programm mehr als ungünstigen politischen und ökonomischen Verhältnissen.

2.2.2 Literaturkonzeptionen nach 1945

Verständlicherweise war die Verarbeitung der Erfahrungen der Kriegs- und Nazizeit die zentrale Aufgabe, die sich die deutschen Autoren nach 1945 stellten. Formale Neuerungen und Experimente traten vor dieser gedanklich-inhaltlichen Arbeit in den Hintergrund. Trotz dieses gemeinsamen Ausgangspunkts kam es zu den unterschiedlichsten und kaum noch vergleichbaren Ergebnissen.

Damit der Standort Rainer Maria Gerhardts in der Zeit deutlich wird, möchte ich einige der markantesten Positionen (und Konzeptionen) dieser Literatur kurz vorstellen: Für die sog. 'Trümmer- bzw. Kahlschlag-Literatur' sollen die Namen Heinrich Böll und Günter Eich stehen; bedeutende Vertreter der älteren Lyrikergeneration waren Wilhelm Lehmann und Werner Bergengruen. Doch bereits einige wenige Jahre später waren neue Töne zu hören: etwa von Walter Höllerer und Helmut Heißenbüttel.

Im Mai 1989 erschien in einer Neuauflage die Anthologie Tausend Gramm, herausgegeben von Wolfgang Weyrauch (Untertitel: Ein deutsches Bekenntnis in dreißig Geschichten aus dem Jahr 1949). 10) Da nach vierzig Jahren eine derartige Publikation anscheinend vor dem Publikum gerechtfertigt werden muß, wurde dem Buch ein erklärende Einleitung mit auf den Weg gegeben, die dem Werk den Rang eines literarischen Dokuments zuerkannte. Es ist einsehbar, daß es dabei weniger um den literarischen Rang der Texte geht als um deren Gewicht als Zeitzeugnis. In seinem Nachwort prägte Weyrauch seinerzeit das Wort von der 'Kahlschlagliteratur':

Die Männer des Kahlschlags (...) schreiben die Fibel der neuen deutschen Prosa. Sie setzen sich dem Spott der Snobs und dem Verdacht der Nihilisten und Optimisten aus: ach, diese Leute schreiben so, weil sie es nicht besser verstehen. Aber die vom Kahlschlag wissen, oder sie ahnen es doch mindestens, daß dem neuen Anfang der Prosa in unserem Land allein die Methode und die Intention des Pioniers angemessen sind. Die Methode der Bestandsaufnahme. Die Intention der Wahrheit. Beides um den Preis der Poesie. Wo der Anfang der Existenz ist, ist auch der Anfang der Literatur. Wenn der Wind durchs Haus geht, muß man sich danach erkundigen, warum es so ist. Die Schönheit ist ein gutes Ding. Aber Schönheit ohne Wahrheit ist böse. Wahrheit ohne Schönheit ist besser. Sie bereitet die legitime Schönheit vor, die Schönheit hinter der Selbstdreingabe, hinter dem Schmerz.11)

Um seinen Begriff zu erläutern, wählt Weyrauch nun allerdings keinen Text aus seiner Prosaanthologie, sondern ein Gedicht:

Günter Eich: Inventur 12)
 
Da dieses Gedicht so häufig wie kaum ein anderes der deutschen Nachkriegsliteratur interpretiert worden ist, sollen hier nur einige wenige Stichworte angeführt werden, die deutlich machen können, was unter 'Kahlschlagliteratur' zu verstehen ist.
Versteht man den Text nur historisch, beschränkt man sich nur auf die Wörter und ihren Informationswert, so fällt es leicht, ihn als Zeitdokument zu definieren und abzutun. Der Leser ist vielleicht bewegt von der Ärmlichkeit und Erbärmlichkeit des Zustands deutscher Heimkehrer nach dem Krieg und fühlt sich gut in seinem angenehmen Wohlstand. Es braucht keine weitergehende Begründung, um diese einschränkende Deutung als verfehlt und dem Gedicht nicht gerechtwerdend zu bezeichnen.
Die einfache, fast liedhafte Form (Vierzeiler mit je zwei Hebungen pro Vers) wird von Eich in den Gedichten aus dieser Zeit häufig verwendet, oft auch mit Endreim. Der Aufbau ist dreigeteilt. Der ausschließlich aufzählenden ersten Strophe folgen fünf weitere, die das 'Inventar' beschreiben, sei es Aussehen oder Funktion. Eine der ersten korrespondierende Strophe beendet das Gedicht. Nicht nur der Inhalt, auch die stark akzentuierten Versanfänge weisen auf den rahmenden Charakter dieser beiden Strophen hin. Die mittlere Strophe deutet an, wie im Offensichtlichen das Geheimnis verborgen ist:

und einiges, was ich
niemandem verrate
13)
Der kunstvolle Aufbau des Textes steht in einem wirkungsvollen Kontrast zu den einfachen Dingen der (Nachkriegs-)Realität.

In der zehn Jahre später entstandenen Rede Der Schriftsteller vor der Realität 14) findet sich eine 'Theorie der Inventarisierung', die einen neuen und anderen Zugang zu dem verschaffen kann, was unter 'Kahlschlag' verstanden wurde und wird.

Ich schreibe Gedichte, um mich in der Wirklichkeit zu orientieren. Ich betrachte sie als trigonometrische Punkte oder als Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren.
Erst durch das Schreiben erlangen für mich die Dinge Wirklichkeit. Sie ist nicht meine Voraussetzung, sondern mein Ziel. Ich muß sie erst herstellen.
15)
 
Für den in eine zerstörte Welt ohne Sinnzusammenhänge heimgekehrten Günter Eich wurde Orientierung die vordringlichste Aufgabe. Die Gedichte als trigonometrische Punkte und Bojen sind die Zeichen, aus denen sich, die Landkarte der eigenen Welt herauskristallisiert. Es ist in dem Gedicht von Fakten, nicht von Gefühlen die Rede, wenn wir von zwei Zeilen absehen:

Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten
16)
Das Objekt dieser Liebe schafft die Welt neu, in der die Menschen leben können; es schafft Heimat, und diese Heimat ist das Gedicht:
 

Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.
17)
Der Verlust der Wirklichkeit kann erst dann rückgängig gemacht werden, wenn Sprache da ist, die sie benennen kann. Es ist dies ein schöpferisch-religiöser Akt: Schaffung von Wirklichkeit durch Benennung, durch Namensgebung. Im Chaos der Nachkriegszeit schafft der Schriftsteller eine neue Ordnung durch Sprache:
 

Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.
18)
Besitzergreifung der Wirklichkeit also nicht nur durch Benennung, durch Sprache, sondern auch dadurch, daß der Autor dieser von ihm geschaffenen Wirklichkeit seinen Namen einprägt: Es ist seine Wirklichkeit, von ihm geschaffen und signiert, oder, wie Hans Vilmar Geppert gesagt hat: »(...) die Dinge wie das Ich werden immer welthaltiger.«
Wir können sagen, daß dieses Programm nicht nur zeitgebunden auf die Literatur der Nachkriegszeit angewendet werden kann, sondern zu allen Zeiten und Orten seine Gültigkeit hat, denn es ist ein 'Überlebensprogramm':

Für diese trigonometrische Zeichen sei das Wort >Definition< gebraucht. Solche Definitionen sind nicht nur für den Schreibenden nutzbar. Daß sie aufgestellt werden, ist mir lebensnotwendig. In jeder gelungenen Zeile höre ich den Stock des Blinden klopfen, der anzeigt: Ich bin auf festem Boden.19)
Die Einfachheit der >Definition< Inventur ist eine überzeugende Korrespondenz zur Wirklichkeit der Zeit nach 1945. Mütze, Mantel, Rasierzeug, Beutel und Socken sind für jeden erkennbare und nachvollziehbare Chiffren; die Pappe »zwischen mir und der Erde«
1952 schrieb Heinrich Böll einen Text, der sowohl als Manifest wie auch als Rechtfertigungsversuch eines großen Teils der deutschen Nachkriegsliteratur gelesen werden kann:

Heinrich Böll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur 20)
 
Böll vermeidet in seinem Text die erste Person Singular, er macht sich zum Fürsprecher und Rechtfertiger einer ganzen Generation:

Wir schrieben also vom Krieg, von der Heimkehr und dem, was wir im Krieg gesehen hatten und bei der Heimkehr vorfanden: von Trümmern: das ergab drei Schlagwörter, die der jungen Literatur angehängt wurden: Kriegs-, Heimkehrer- und Trümmerliteratur.21)
Die Argumentation bleibt im inhaltlichen Bereich. Der Schriftsteller ist der Beobachter, der Seismograph: Was er braucht, ist »ein gutes Auge«, um die Zustände und Gegebenheiten aufmerksam zu registrieren und seine Stimme gegebenenfalls zur Anklage zu erheben. Böll schlägt einen großen Bogen über die gesamte abendländische Literatur und ernennt Homer zum Kronzeugen und ersten Vertreter der 'Trümmerliteratur'. 22) Es liegt nahe und ist aus der Sicht der Autoren verständlich, daß formale Aspekte als weniger bedeutend in den Hintergrund treten, denn es ging (wie wir bereits bei Wolfgang Weyrauch gelesen haben) nicht um Schönheit, sondern um Wahrheit. Inwieweit dies ein Widerspruch sein kann und darf, ob Wahrheit ohne Schönheit überhaupt möglich und denkbar ist, kann hier nicht erörtert werden. Vor der Chronistenpflicht traten ästhetische Probleme in den Hintergrund:

Es ist unsere Aufgabe, daran zu erinnern, daß der Mensch nicht nur existiert, um verwaltet zu werden - und daß die Zerstörungen in unserer Welt nicht nur äußerer Art sind und nicht so geringfügiger Natur, daß man sich anmaßen kann, sie in wenigen Jahren zu heilen.23)
Die Arbeit an dieser Aufgabe blieb für Böll bestimmend von seinen ersten Romanen bis zu seinem letzten Werk Frauen vor Flußlandschaft (1985). Bezeichnend war, daß in den Nachrufen zu Leben und Werk dieses wohl bekanntesten deutschen Nachkriegsautors immer wieder nur die Rede war von dessen gesellschaftlichen und moralischen Positionen. 24) Von einer möglichen Bedeutung seines Werks für die Literatur war nicht oder nur am Rande die Rede.

Eine der wichtigsten Publikation der Zeit war eine Anthologie deutscher Lyrik von 1900 bis 1950, deren Titel bereits ein Programm verkündete:
 

H.E.Holthusen / F.Kemp: Ergriffenes Dasein 25)
 
Bereits gegen Ende der ersten Legislaturperiode der jungen Bundesrepublik Deutschland ließ sich eine wirtschaftliche und politische Stabilisierung feststellen. Das, was man später als Adenauer-Ära bezeichnen würde, bestimmte auch wesentliche Bereiche der Literatur: Vor allem im Bereich der Lyrik vollzog sich eine Restauration im Sinne christlich-abendländischer Tradition, für die es (anscheinend) die gewagten Experimente des Expressionismus und Dada nicht gegeben hatte. Zwar enthält die Anthologie in ihrer dritten Abteilung auch Gedichte aus dieser wesentlichen Epoche der deutschen Literatur, jedoch keineswegs entsprechend ihrer Bedeutung. Die umfangreichste, fünfte Gruppe ist die bestimmende: »Den Dichtern des Dorfteichs treten die Dichter der City und der Zeitgeschichte ergänzend und widersprechend entgegen.«) Bereits eine erste Lektüre aber läßt erkennen, daß die 'Dichter des Dorfteichs' überwiegen, und wir kommen nicht umhin, uns dem Urteil Peter Rühmkorfs anzuschließen:»
Als im Jahre 1950 die von Holthusen und Friedhelm Kemp herausgegebene Anthologie 'Ergriffenes Dasein' herauskam, war letztlich kein Zweifel mehr, daß die poetische Moderne ins Treibhaus verbannt worden war. Von überall duftete es auf einen zu; kein deutscher Verseflechter, der nicht durch die Blume sprach. 26)

Mit einer umfassenden Auswahl seiner Gedichte ist Wilhelm Lehmann vertreten. Bereits die Titel sind hier Programm und sprechen eine deutliche Sprache: Klage ohne Trauer, Abgeblühter Löwenzahn, Auf einen sommerlichen Friedhof, Fliehender Sommer, u.ä. In einem Gedicht mit dem Titel »Deutsche Zeit 1947« 27) heißt es: »Blechdose rostet, Baumstumpf schreit. / Der Wind greint. Jammert ihn die Zeit?« Eine Idylle, zwei Jahre nach Kriegsende: Die Zerstörungen und Verletzungen scheinen in der Natur stattgefunden zu haben und nicht im Bewußtsein der Menschen. Wenn man bereit ist, bei 'Blechdose' an die Eich'sche Blechdose des Kriegsheimkehrers, bei 'Baumstumpf' an die vielen Beinstümpfe der Kriegskrüppel zu denken, dann können diese Gedichte ihren Platz in der Zeit finden, aber nur dort.
Gewiß ist in diesen Texten die Natur geschunden und zerstört. Es ist allerdings zu fragen, welche Funktion diese Gedichte für einen Leser haben, der die Zerstörung zuerst einmal an sich selbst erfahren hat. Eingebunden in den Naturzusammenhang kann er Vertröstung erfahren, die selten wirklicher Trost ist, auch wenn der Dichter beschwörend ruft: »Ich bin genährt. Ich hör Gesang.«
Fast ebenso stark vertreten wie die Naturlyrik sind Themen aus der antiken Mythenwelt. Doch auch hier wieder: Der Dichter wünscht das Reine, und die Zeit, insofern sie überhaupt in Erscheinung tritt, kann nur störend einwirken:

Kein Ekel scheucht die Schmetterlinge
Vom Liebesspiel, kein Todgestank...
28)
Die Natur ist 'natürlich', und die Welt wieder ohne Schrecken. Peter Rühmkorf mochte an Gedichte wie dieses gedacht haben, wenn er eine »Wiedergeburt des Mythos aus dem Geiste der Kleingärtnerei«) bei vielen Produkten der Nachkriegslyrik konstatierte.»
 
Werner Bergengruen: Die heile Welt 29)
 
Eine auf eine besondere Art extreme Position in der Literaturlandschaft nach `45 nahm der Lyriker und Erzähler Werner Bergengruen (1892-1964) ein. Seine von einem christlichen Fundament getragenen Romane, Erzählungen und Gedichte scheinen die Katastrophe des Zusammenbruchs unbeschadet überstanden zu haben.

Niemand kann die Welt verwunden,
nur die Schale wird geritzt.
30)
Bezeichnender Titel des Gedichts, der zum Begriff wurde: Die heile Welt. Was Bergengruen unter einer 'heilen Welt' verstand, definierte er 1947 in 'Das Wandelbare und das Unvergängliche in unserer Zeit':

Ja, es ist meine Überzeugung, daß die Grundlagen der Existenz in das feste Gefüge einer ewigen Ordnung gehören und von aller Problematik, allen Krisen der einzelnen Geschichtsperioden und mithin auch unserer Zeit nicht eigentlich berührt werden können. 31)
So gesehen fügt sich auch die Periode des Nationalsozialismus in diese 'ewige Ordnung' ein: ein Durchgangsstadium, eine Periode wie viele andere auch. Einer solchen Haltung fehlt jede Motivation, Inhalte und Formen einer tradierten Literatur zu überprüfen und gegebenenfalls zu verwerfen, um neue Inhalte und Formen zu suchen und zu finden. Diese Literatur betäubt, wendet den Blick vom Menschen weg auf eine unbekannte, dem Mensch-lichen transzendente Ordnung:

Felsen wachsen, Ströme gleiten,
und der Tau fällt unverletzt.
Und dir ist von Ewigkeiten
Rast und Wanderbahn gesetzt.
32)
Hier erscheint ein Weltbild, das den Menschen keine Möglichkeiten offenläßt zu eigenständigem Handeln: Alles ist vorherbestimmt. Inwieweit der Leser der Nachkriegszeit auch hier statt Trost nur Vertröstung fand, soll nicht erörtert werden. Hoffnung und Ermunterung fand dieser Lyriker in einer Sphäre jenseits des Menschlichen:

...bis von nie erblickten Sternen
dir die süße Labung träuft.
33)
Allerdings muß man auch sagen, daß diese Literatur nicht im luftleeren Raum entstand. Wir können feststellen, daß die Restaurationsbestrebungen bestimmter Kräfte der Nachkriegspolitik hier ihren Ausdruck fanden. Politische Wertung steht uns hier nicht zu, die literarische Funktion der Vertröstung können wir nur konstatieren.

Zusammenfassend können wir uns dem Urteil Peter Rühmkorfs anschließen, der feststellt:

Aufs gesamt war es wohl eher eine Karenz- und Stillhaltezeit als eine Periode neuen Landgewinns. Am ehesten möchte man von einem etwas richtungs- und reibungslosen Intervall sprechen, einer Zeit der stillen Stoffwechselvorgänge, latenten Anregungsverarbeitungen, verhaltenen Osmosen und Akzentverschiebungen. Eine schöpferische Revision des deutschen Expressionismus und eine Besinnung auf die eigenen modernen Traditionen, die man dem Neubeginn wohl hätte zumuten mögen, fanden dabei nicht statt. 34)

Um nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, daß überhaupt keine Experimente stattfanden und Neuansätze gesucht wurden, wollen wir auf zwei Autoren hinweisen, die neue Töne anschlugen.

Walter Höllerer: Der andere Gast (1952) 35)
 
Noch stärker als die Gedichte Günter Eichs scheinen die Texte Walter Höllerers unbeeinflußt und unbeeindruckt von Vorbildern und Moden der Zeit. Ein leichter, freierer Ton machte sich hörbar. Erlebtes und Erfahrenes schienen sich auf direktem Wege Gehör verschaffen zu wollen:

Der lag besonders mühelos am Rand
Des Weges. Seine Wimpern hingen
Schwer und zufrieden in die Augenschatten.
Man hätte meinen können, daß er schliefe.
36)
Genaues Hinhören, exakte sinnliche Wahrnehmung kennzeichnet diese Verse. Doch hinter einer nur scheinbar unbeteiligten Beschreibung eröffnen sich Abgründe, die in keinem der bekannten 'Zeitgedichte' zu finden sind:

Und seine Hand (wir konnten dann den Witz
Nicht oft erzählen, beide haben wir
Ihn schnell vergessen) hatte, wie ein Schwert,
Den hart gefrornen Pferdemist gefaßt,

Den Apfel, gelb und starr,
Als wär es Erde oder auch ein Arm
Oder ein Kreuz, ein Gott: ich weiß nicht was.
Wir trugen ihn da weg und in den Schnee.
37)

Der Lakonismus dieser Verse läßt das Grauen des Krieges durch eine Garnierung mit gängigen 'Naturbildern' deutlich werden. Auch hier (wie bei Eich) wird die Schreckensrealität erst dadurch Realität, daß sie zu Sprache wird. Aufgrund der Tatsache, daß Sprache hier die Kraft hat, Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit (keine rettende Heimaterde, kein rettender Arm, kein rettendes Symbol, kein rettender Gott) eines jeden Krieges deutlich zu machen, gewinnt das Gedicht eine Bedeutung, die über die konkrete Nachkriegszeit hinausweist. Es ist nicht die Sprache der Metaphysik wie bei Bergengruen, die von den Ereignissen der Zeit absieht und 'Ewiges' zu formulieren sucht, es ist eine Redeweise, die aus der Zeit heraus Erfahrungen für die 'Nachgeborenen' nachvollziehbar zu machen versucht. Die Sprache des Dichter ist nicht korrumpierbar, weil sie keine Verbindung eingeht mit der herrschenden Sprache (sei es nun die Sprache der herrschenden Literaturrichtung[en] oder die der Herrschenden 38)).

Das ästhetische Programm ist einfach: die Worte sagen das, was sie sagen, ohne Hintersinn: Wolken sind Wolken und das Meer ist das Meer:

Doch jetzt im Eselkarrn
Da siehst du schon noch mehr:
Und daß die Wolken Wolken sind,
Das blaue Meer ein Meer,

Und gar nicht ein Symptom,
Und nicht ein Stück, ein Biß,
Und nicht ein Katalyt und nicht
Ein Schattenriß.
39)

Helmut Heißenbüttel: Kombinationen (1954)
 
Bereits der Titel dieses Textbandes weist auf Neues hin: Nicht der Dichter als Interpret oder Seher (der Zeit / der Zukunft) ist gemeint, sondern der Montagekünstler, wie ihn Gottfried Benn forderte; 40) das Experiment bekommt eine Stimme.

Bilder, Metaphern und Chiffren werden reduziert auf das Gegenständliche, das Faktum. Die Kombination bzw. Montage dieser Fakten ist der eigentliche dichterische Prozeß. 41) Es kommt für den Leser nicht mehr darauf an, einen Empfindungs-, sondern einen Gedankenprozeß nachzuvollziehen. So gesehen kann man die frühe Lyrik Heißenbüttels auch als einen Prozeß der Distanzierung von vorherrschenden literarischen Richtungen verstehen. In der Kombination 6. finden wir das poetische Programm:

Reduktion auf die Variation eines Modells.
Und das Modell ist eine Kombination von Tätigkeitswörtern.
Erinnerung bildet nicht.
Entwicklung ist nur der Einsatz der immer gleichen Melodie.
Bekanntsein verändert nicht.
42)
Aber das Bekannte kann neu montiert und kombiniert werden und so zu (immer neuen) Einsichten führen. Das vorhandene Material ist vielfältig und reichhaltig: Altbekannte Bilder, Zitate, Eindrücke, flüchtige Gedanken, Fakten, etc. stehen plötzlich in einem verfremdenden Licht, das durchaus aufklärerische Funktionen haben kann. Doch nicht nur in den Einzelfakten des Gedichts liegt der Lektüregewinn, sondern vor allem in den Übergängen, in dem Aufeinanderprallen von scheinbar Disparatem. 43) An den Schnittstellen entsteht Schönheit.
In seinem Nachwort zu Heißenbüttels Gedichtband schreibt Hermann Kasack:

Es ist natürlich leicht, über diese Bemühungen achselzuckend hinwegzugehen oder sie als unfruchtbare Experimente abzutun. Zweifellos unternimmt Heißenbüttel einen Ausflug in eine terra incognita - und wer wollte entscheiden, was sie einmal bedeutet! Wenn es aber eine Flucht aus der Zeit ist, dann eine Flucht nach vorn. 44)

Daß Heißenbüttels Bewegung eine Bewegung nach vorn war, kann heute von niemand mehr ernsthaft bestritten werden, gehört der Autor doch mittlerweile zu den Klassikern der Avantgarde. Seine Texte haben sich etabliert. Ein Gedicht aus Kombinationen mag hier stehen als Beispiel für einen Text der Nachkriegsliteratur, der literarisches Experiment wie Zeitzeugnis und Zeitkritik in einer besonders geglückten Weise vereint:

E i n f a c h e   S ä t z e :

während ich stehe fällt der Schatten hin
Morgensonne entwirft die erste Zeichnung
Blühn ist ein tödliches Geschäft
ich habe mich einverstanden erklärt
ich lebe
45)

Die angeführten Beispiele aus dem ersten Nachkriegsjahrzehnt wollen in keiner Weise Vollständigkeit suggerieren: Andere, bedeutende Autoren, die das Bild der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur geprägt haben, wie z.B. Paul Celan und Ingeborg Bachmann, fehlen, da eine auch noch so kursorische Auseinandersetzung mit ihrem Werk den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Es kann einzig und allein darum gehen, aufzuzeigen, in welchem Umfeld Rainer Maria Gerhard seine Arbeit aufnahm und letztlich scheiterte. Dieses Umfeld muß mitbedacht werden, wenn in Kapitel 3 die Arbeit dieses Dichters und Vermittlers dargestellt werden soll.
 

2.3 fragmente. blaetter fuer freunde

In dieser Vielfalt poetischer Versuche, die vor dem hier skizzierten unsicheren Hintergrund stattfanden, erschien gegen Ende der 40er Jahre eine neue Stimme.
 

Es gab auch andere junge Dichter, Frühgefällte, mit dem Hautgout des Todes und der Vergeblichkeit, und da war doch das schwarze Los, das einer gezogen hatte, noch lange nicht der Anteilschein auf späteren Ruf, nicht einmal auf Erinnerung. Ich nenne in diesem Zusammenhang die jung Verstorbenen Werner Riegel, Alexander Xaver Gwerder, Rainer M. Gerhardt - sie standen alle als unübersehbare einzelne in ihrer Zeit, ein jeder mutig auf seine Art, verrückt auf seine Art, unbeugsam, manisch bis zum selbstgewählten oder lange vorausgeahnten Ende, und doch war keiner von ihnen der Günstling einer ganz besonderen Stunde. Sie waren wohl Bekenner eines glaubens- und illusionslosen Individualismus und fanden doch den Weg nicht von ihrer Isolierung zum anderen Einsamen. Während Wolfgang Borchert erhöht wurde zum Sinnbild des leidenden einzelnen, blieben sie: Randerscheinungen der Literatur. 46)
Von zwei der genannten Autoren erschienen bzw. werden Werke erscheinen. 47) Im Fall Rainer Maria Gerhardt ist eine Publikation nicht abzusehen.

In den Jahren 1949 und 1950 gab dieser, ähnlich wie Werner Riegel, eine hektographierte Zeitschrift heraus, in der er versuchte, der neuen Literatur eine Stimme zu geben. Es erschienen sechs Hefte, nicht paginiert und ohne Jahresangabe; Erscheinungsort: Freiburg, Stadtstrasse 7. Titel: fragmente. blaetter fuer freunde.

Absicht und Richtung dieser Publikation lassen sich erkennen aus einer Notiz, die sich, mit geringfügigen Varianten, jeweils auf der letzten Seiten der Zeitschrift findet:

LIEBE FREUNDE

leider koennen wir nicht mehr den freundlichen austausch von manuskripten weiterfuehren. Der langsam groesser gewordene kreis ist uns ueber den kopf gewachsen und wir koennen mit dem besten willen nicht mehr so viele abschriften ausfertigen.

Wir kamen nun auf die idee, die manuskripte zu vervielfaeltigen und haben uns an die arbeit gemacht. Diese heftchen sind das ergebnis. Sie haben zwar die maengel der vervielfaeltigung, doch koennen wir allen unseren freunden wieder diese kleinen boten zukommen lassen.

Wir bitten, liebe freunde, beteiligt Euch wie bisher durch Eure manuskripte an dieser kleinen arbeit; wir bleiben bei dem, was wir immer wollten, neues zu suchen und zu finden und eine kleine gemeinschaft zu sein, der es auf die versuche ankommt.

Und, liebe freunde, gebt diese blaetter weiter, damit alle diejenigen sie in die haende bekommen, die interessiert sind oder die es sein koennten. 48)
 

Heft 1:
Klaus Bremer: Das Tannadeltier. Prosa
Ezra Pound: Pour l'election de son sepulchre. Gedicht
T.S.Eliot: Schwierigkeiten eines Staatsmannes. Gedicht
R.M.Gerhardt: verlorener geist, attische stele. Gedicht
R.M.Gerhardt: gesang der juenglinge im feuerofen. Gedicht

Heft 2:
Klaus Bremer: Am Rand der Steppe. Gedicht
Klaus Bremer: Die Szenerie ist der knallgelbe Strand. Prosa
R.M.Gerhardt: Betrachtung. Gedicht
Delmore Schwartz: Lasst uns betrachten, wo die grossen maenner sind. Gedicht
Ezra Pound: Canto XIII
Dora Tatjana Soellner: Im bewegungslosen wasser. Gedicht
Renate Zacharias: Grosses Gefaess. Erlesenes Gebluete. Gedicht
R.M.Gerhardt: Vermaechtnis. Gedicht

Heft 3:
R.M. Gerhardt: der tod des hamlet. Gedicht

Heft 4:
Saint-John Perse: Regen. Gedicht
Renate Zacharias: Die grosse Mitte. Prosa
Saint-John Perse: Regen II
Henry Miller: Der Wendekreis des Krebses. 1. Kapitel
Klaus Bremer: Es ist alles in Ordnung. Prosa
Saint-John Perse: Regen VIII und IX
 

Heft 5:
Renate Zacharias: Gedichte und Prosa  (Wir im selbstgebauten Gestell - Eine von einem - Christusgedichte - Die Belagerung - Vermaechtnis)

Heft 6:
Walter Hilsbecher: Sporaden. Aphorismen
Ezra Pound: Canto XLV
Rainer M. Gerhardt: fragment. Gedicht
Klaus Bremer: Gedicht
Theodore Roethke: die gestalt des feuers. Gedicht
Klaus Bremer: Mondgedicht

Das Inhaltsverzeichnis spricht eine deutliche Sprache: Hier war eine Gruppe junger Dichter und Dichterinnen, die sich nicht in Selbstgefälligkeit erging, sondern den 'Blick über den Zaun' wagte. 1950 Texte von Ezra Pound und Henry Miller zu veröffentlichen, war nicht nur ein großes Wagnis, es war auch ein Zeugnis für Aufgeschlossenheit gegenüber dem Neuen in der Literatur, sei es formal oder inhaltlich. 49)

Beziehungen zu anderen Gruppen, wie der 'Gruppe 47', gab es nur indirekt: Ilse Schneider-Lengyel, in deren Haus in Bannwaldsee/Allgäu im September 1947 die erste Tagung dieser Gruppe stattfand, war Mitarbeiterin der ersten Nummer der fragmente (Auswahl primitiver Dichtung, S. 20-27). Ein von ihr herausgegebenes Buch über Puppen war geplant. Ein Mitarbeiter der ersten Folge der fragmente (Heft 6) und Gruppe 47-Mitglied war Walter Hilsbecher.


Anmerkungen:

1) Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967, Seite 25.
2) Die Bedeutung, die dieser Verlust für den 'Volksgenossen', der nun zum 'Demokraten' erzogen werden sollte, hatte, beschreiben A. und M. Mitscherlich (a.a.O., Seite 34-35) wie folgt: »Die Unfähigkeit zur Trauer um den erlittenen Verlust des Führers ist das Ergebnis einer intensiven Abkehr von Schuld, Scham und Angst; sie gelingt durch den Rückzug bisher stark libidinöser Besetzungen. Die Nazivergangenheit wird derealisiert,entwirklicht. Als Anlaß zur Trauer wirkt übrigens nicht nur der Tod Adolf Hitlers als reale Person, sondern vor allem das Erlöschen seiner Repräsentanz als kollektives Ich-Ideal. Er war ein Objekt, an das man sich anlehnte, dem man die Verantwortung übertrug, und ein inneres Objekt. Als solches repräsentierte und belebte er aufs neue die Allmachtsvorstellungen, die wir aus der frühen Kindheit über uns hegen; sein Tod und seine Entwertung durch Sieger bedeutete auch den Verlust eines narzistischen Objekts und damit eine Ich- oder Selbstverarmung und -entwertung.«
3) E.Noelle / E.P.Neumann (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, Allensbach 1956, Seite 132.
4) Hans Karl Rupp: "wo es aufwärts geht, aber nicht vorwärts...". Politische Kultur, Staatsapparat, Opposition, in: Dieter Bänsch (Hrsg): Die fünfziger Jahre. Beiträge zu Politik und Kultur, Tübingen 1985, Seite 29.
4) Der Brief Gerhardts an Olson von 8.1.1952 wird in einem Anhang zu dieser Arbeit vollständig zitiert.
4) Vgl. hierzu auch: Ludwig Fischer in: Rolf Grimminger (Hrsg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Band 10: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Ludwig Fischer, München 1986, Seite 34-37. - Eine informative und erkennende Lektüre bietet: Hans Magnus Enzensberger (Hrsg.): Europa in Trümmern. Augenzeugenberichte aus den Jahren 1944-1948, Frankfurt/Main 1990.
5) Jan Philipp Reemtsma: Aus diesem Grunde daher, in: konkret, Hamburg, Nr. 10/1989, Seite 69.
6) Rainer Maria Gerhardt: Brief an Charles Olson, a.a.O.
7) Informationen zum Thema bieten folgende Werke:
 - Rolf Grimminger (Hrsg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Band 10: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Ludwig Fischer, München 1986 (Hier insbesondere Teil 2: Literaturverhältnisse in der Nachkriegs-Restauration).
 - Hansjörg Gehring: Amerikanische Literaturpolitik in Deutschland 1945-1953. Ein Aspekt des Re-Education-Programms, Suttgart 1976.
 - Ernst Umlauf: Der Wiederaufbau des Buchhandels. Beiträge zur Geschichte des Büchermarkts in Westdeutschland nach 1945, Frankfurt/Main 1978.
 - Über die Stellung deutscher Schriftsteller in und zu ihrem Staat informiert ein Lesebuch mit Offenen Briefen, Reden, Aufsätzen, Gedichten, Manifesten und Polemiken: Klaus Wagenbach et al. (Hrsg.): Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat von 1945 bis heute, Berlin 1979.
8) Gerhardt, a.a.O.
9) Z.B. Alexander Xaver Gwerder, Werner Riegel, Herta Kräftner, u.a.; vgl. die entsprechenden Kapitel in: Hans J. Schütz: >Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen<, München 1988.
10) Wolfgang Weyrauch (Hrsg.): Tausend Gramm. Ein deutsches Bekenntnis in dreißig Geschichten aus dem Jahr 1949, Reinbek 1989 (= rororo 12611).
11) A.a.O., Seite 181.
12) Günter Eich: Abgelegene Gehöfte. Gedichte, Frankfurt/Main 1968 (Der Text folgt unverändert der Erstausgabe im Verlag Kurt Schauer, Frankfurt/Main 1948.), Seite 38-39.
13) Günter Eich: Inventur, in: Abgelegene Gehöfte, a.a.O., Seite 39.
14) Günter Eich: Der Schriftsteller vor der Realität, in: Gesammelte Werke, Band IV, Frankfurt/M 1973, Seite 441-442
15) A.a.O., Seite 441.
16) Eich: Inventur, a.a.O., Seite 39.
17) Ebda.
18) A.a.O., Seite 38.
19) Hans Vilmar Geppert: Aspekte der Literatursemiotik: Ein Versuch zum Verhältnis von Lyrik und Werbung, in: Jahrbuch der Universität Augsburg 1988, Augsburg 1989, Seite 197. - Ich möchte vielleicht sogar noch einen Schritt weitergehen und behaupten, daß »Inventur« sind, neu erschafft, indem er sie neu benennt.
19) Günter Eich: Der Schriftsteller vor der Realität, a.a.O., Seite 442.
20) Heinrich Böll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur, in: ders.: Erzählungen Hörspiele Aufsätze, Köln 1961, Seite 339-343.
21) A.a.O., Seite 339.
22) Ebda.
22) A.a.O., Seite 343.
23) Ebda.
24) Vgl. z.B. Der Spiegel, Hamburg, Nr. 30 vom 22.7.1985 (Nachrufe von Rudolf Augstein, Hans Magnus Enzensberger, Siegfried Lenz) und Der Stern, Hamburg, Nr. 31 vom 25.7.1985.
25) Hans Egon Holthusen / Friedhelm Kemp (Hrsg.): Ergriffenes Dasein. Deutsche Lyrik 1900-1950, Ebenhausen bei München 1953.
26) Die Herausgeber in ihrem Nachwort, a.a.O., Seite 351.
26) Peter Rühmkorf: Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen, in: ders.: Strömungslehre I. Poesie, Reinbek 1978, Seite 17.
27) in: Holthusen/Kemp, a.a.O., Seite 259-260.
28) A.a.O., Seite 260.
28) Wilhelm Lehmann: Daphne, a.a.O., Seite 258.
29) Rühmkorf, a.a.O., Seite 17.
29) Werner Bergengruen: Die heile Welt. Gedichte, Zürich 1952.
30) A.a.O., Seite 94.
31) Werner Bergengruen: Mündlich gesprochen, Zürich 1963, Seite 369-370.
32) Bergengruen: Die heile Welt, a.a.O., Seite 94.
33) Ebda.
34) Rühmkorf, a.a.O., Seite 25.
35) Zitiert wird nach Walter Höllerer: Gedichte 1942-1982, Frankfurt/Main 1982. W.H. hat nicht alle Gedichte aus dem Band Der andere Gast in diese Sammlung aufgenommen.
36) Walter Höllerer: Der lag besonders mühelos am Rand, in: W.H.: Gedichte, a.a.O, Seite 23.
37) Ebda.
38) Walter Höllerer: »In einem dieser ersten Gedichte kommt, schon in der ersten Fassung, die Zeile vor: "Sag ohne scheelen Blick dich selber" - das heißt, sprich in der Tonart, die nicht diese Verfälschungen hat. Auch der Rhythmus war wichtig, damit man aus dem dröhnenden Marschtritt herauskam, der alles niederwalzte, mitsamt der eigenen Person. Es war der Versuch, mit der Sprache Beweglichkeit zu erreichen, ein tägliches Leben anzusteuern, das Bewegung möglich machte, das nicht starr und verfügbar war.
39) Walter Höllerer: Jetzt gehts nach Süden zu, in: W.H.: Gedichte, a.a.O., Seite 42.
40) Vgl. u.a. Gottfried Benn: Probleme der Lyrik, in: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke, Band 4: Essays und Reden, Frankfurt/Main 1989, Seite 505-535.
41) Hierzu bemerkt Hermann Kasack in seinem Aufsatz 'Konstruktive Lyrik': »Die Bilder werden bei ihm zu isolierten Fakten, verdichten sich zu Summierungen, verknappen sich zu Diagrammen. Dieser Form der nackten Aussage liegt kein zerstörerisches, sondern ein konstruktives Prinzip zugrunde. Das Konstruktive fordert den Verzicht auf die herkömmliche Konvention, also auf fast alles, was bisher dem Leser von Gedichten vertraut und behaglich war.
42) Helmut Heißenbüttel: Kombinationen. Gedichte 1951-1954, Eßlingen 1954, o.p.
43) Vgl. Albert Arno Scholl: Die gestundete Zeit. Junge deutsche Lyrik nach dem Kriege, in: Schweizer Rundschau, 54. Jhg., Zürich 1954/55, Seite 672-673 .
44) Hermann Kasack, a.a.O., Seite 188.
45) Helmut Heißenbüttel, a.a.O.
46) Peter Rühmkorf: Nachwort zu Wolfgang Borchert: Die traurigen Geranien, Reinbek 1967 (= rororo 975), Seite 110-111.
47) Peter Rühmkorf: WERNER RIEGEL. »...beladen mit Sendung. Dichter und armes Schwein« Zürich 1988. - Ausgewählte Werke von Alexander Xaver Gwerder sollen im Arche Verlag, Zürich erschei_nen.»
48) fragmente. blaetter fuer freunde. gesammelt von r. m. gerhardt. freiburg, stadtstrasse 7. als manuskript vervielfaeltigt. die rechte der autoren werden nicht beruehrt. Heft 1, o.J., o.P.
49) Auf einige dieser Texte und ihre Bedeutung für die deutsche Nachkriegsliteratur wird in Abschnitt 3.4.2 näher eingegangen.


 


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