M A R I N A  -  oder:
Leben im Untergrund
Illegal in Deutschland                                    eine ‘Spiegel’-Titelgeschichte
 

Der Friseur erzählt Neuigkeiten, wenn er bloß frisieren soll. Der Journalist ist geistreich, wenn er bloß Neuigkeiten erzählen soll. Das sind zwei, die höher hinauswollen.
Sie behandeln eine Frau wie ein Labetrunk. Daß die Frauen Durst haben, wollen sie nicht gelten lassen.
Vervielfältigung ist insofern ein Fortschritt, als sie die Verbreitung des Einfältigen ermöglicht.

Karl Kraus

Es schreibt der ‘Spiegel’, Hamburg, am 4. 12. 1995:
Illegal in Berlin

leben drei Russen, die auch auf dem Titelbild zu sehen sind. Sie kamen über die grüne Grenze durch Polen und die Oder, um in der Hauptstadt unterzutauchen.
Den Bildhauer Igor, 40, trieb Hunger von zu Hause weg. Schlepper vermittelten ihm die Einreise und einen Job als Lagerarbeiter. In Rußland sieht der glatzköpfige Künstler keine Chance mehr für sich, „dahin gehe ich nie wieder zurück."
Die ehemalige Fremdsprachenstudentin Marina, 28, erzählt, noch vor kurzem habe sie in Moskau als Gelegenheitsprostituierte in einem Nobelrestaurant gut verdient - bis die Mafia immer höhere Schutzgelder forderte. „Ein Freund der Familie" habe dann den Trip nach Deutschland organisiert. Nun schafft sie in einem Edelbordell der Hauptstadt an.
Michail, 18, hatte zuviel gehört über das elende Leben russischer Rekruten in den Kasernen. Als der Einberufungsbefehl der Armee kam, machte er sich aus Angst vor Schikanen, dem Hunger und möglichen Kriegseinsätzen auf den Weg nach Westen - ohne professionelle Hilfe. Gerade erst in Berlin angekommen, hat er noch keine Vorstellung, wie sein Leben weitergehen soll. Derzeit schlägt er sich mit Hilfsarbeiten in einer Fahrradwerkstatt durch.

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Dazu schreibt die ‘tageszeitung’, Berlin, am 5. 12. 1995 unter der Überschrift:
 
---Unterm Strich

Beim Spiegel hat man Schwierigkeiten mit nackten Frauen. Gerne würde die Redaktion Echtfleisch von der supererotischen Sorte zeigen. Aber da ist stets der innere Augstein vor, der mit herausgeberischem Talent Titten nur im Kontext kennt. Frauenbrüste auf dem Titelblatt sind korrekt, wenn Silikon in ihnen wogt, ein Krebs dort wuchert oder die Bevölkerungsexplosion an ihnen nagt. Der aktuelle Aufhängerbusen stammt von einer gewissen Ma-rina aus Moskau. Sie ist 28 Jahre jung und hat früher fremde Sprachen studiert. Jetzt arbeitet sie als Prostituierte „in einem Edelbordell der Hauptstadt". Der Spiegel meint: illegal - und hebt sie als Belegexemplar aufs Cover seiner allerneuesten Ausgabe. Woran aber erkennt man, ob eine russische Frau in der Fremde anschafft oder bloß ihre Fremdsprachenkenntnisse auffrischt? Am Busen eben, der hier gelb umlettert zwischen Hauptstadtvokabeln wie „Leben" und „Untergrund" hervorlugt, ein wenig rosa-bläulich schon und steif bis in die Nippel. Es muß recht kalt gewesen sein bei der Fotosession im winterlichen Berlin, zumal die junge Dame lediglich ein Spitzenunterhöschen trägt. So was macht Illegalität recht realistisch, wird sich der Spiegel gedacht haben. Im Pornogeschäft oder bei den Follies Bergères wird Kälte eher gegen die Schlaffheit genutzt: Mit Eiswürfeln einreiben, dann spitzt sich alles wie von selbst (demnächst in Paul Ver-hoevens „Show Girls" zu sehen). Und Marina hätte mit diesem kleinen Kunstgriff im warmen Spiegel-Büro an der Kurfürstenstraße statt auf der Straße posen können. Das wäre sicherlich gemütlich geworden. Eine nackte Frau zwischen kichernden Redakteuren, die Empfangsdame bringt verlegen Rotkäppchensekt. Zum Schluß ein Gruppenfoto mit Marina, womöglich neben dem gutgelaunten Berlin-Chef Michael Sontheimer, und darüber die Zeile: „Leben im Untergrund". Spiegel-Leser wissen mehr.

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Dazu schreibe ich am 6. 12. 1995:

Wenn ich denn etwas zu sagen hätte in dieser trostlosen Einöde der Buchstabenwelt, wo es so munter zu geht, wie es sich der Urheber der Motti nicht hätte einfallen lassen; wenn ...
... wenn es denn einen Körper gibt, der standhält den blöden Anwürfen der Schmierfinken von links und rechts, so vielleicht dieser, auf den zwar alles zutrifft, was gesagt wurde, der aber doch zurückzuckt vor so viel Schwärze.
Ich kann nicht wissen, wie hoch das Honorar war, daß diese Person für ihren Körper bekommen hat - die Spiegel-Zuhälter werden´s wissen. Genug wird es nie gewesen sein können. Und warum hat sie überhaupt Begleiter, und warum scheint - trotz allem - der Titel zu stimmen? Daß ein Bewußtsein hier am Werk war, scheint ausgeschlossen, es sei denn ... es sei denn, es sei einige Etagen tiefer zu suchen als im ‘NormalPhall’.
Nicht auszuschließen ist die Komplexität dieses ungewollten Kunstwerkes, die mich auffordert, näher heranzutreten an diesen Körper, die Beziehungen, in die er verwickelt ist, näher zu betrachten, vielleicht so etwas herzustellen wie Gerechtigkeit ...

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Marina.  a little poem

da ist
zunächst einmal
die hand, die abwehrt
da sind
die  s o  roten lippen
da sind
- einvernehmend -
die das LEBEN/
verheißenden brüste
da ist
so viel mehr
das aufzuzählen
mir nicht erlaubt
da ist ein anfang
gemacht
da ist ein signal
gesetzt
... und ich
muß antworten
... auch dann
wenn ich nicht
will ...
 
 



 

Nicht nur ein Passant ...

Dies sind nachträgliche Gedanken - neun Monate später - erinnert, aber nicht wesentlich anders oder unterschieden von den Gedanken damals ... Es sind Notizen, abgeschrieben aus einem Tagebuch  - und dementsprechend zu behandeln.

Helgoland - Karfreitag 96

Es hat einige Tage gedauert, Tage, in denen wir uns schon recht gut erholt hatten: viel frische Luft und lange Spaziergänge ..., bis ich endlich Monika telefonisch erreichen konnte. Und wir immer, wenn irgendetwas in Luft lag, spürte ich auch hier sofort, daß die ‘Normalität’ zerbrochen war. Nach einigen Floskeln und der Frage: „Wie geht´s euch denn so?" hörte ich Thomas im Hintergrund: „Nun sag´s schon!" Und sie: „Jan Philipp ist entführt worden." Weil ich das nicht wollte, wollte ich zuerst einen ungläubigen Witz machen und ‘es’ wegschieben. Aber klar: Soweit kann niemand gehen, mit solch einem Geschehen zu spielen - der Witz blieb im Hals stecken. Dann erzählt sie ... In einer engen Telefonzelle bin ich überfordert, kann vorerst nicht reagieren. „Ich rufe später noch mal an." Erst einmal raus, an die Luft, tief durchatmen, gehen ... Für die zweihundert Meter zum Appartement brauche ich eine Viertelstunde. Ich erzähle. Gleiche Reaktion bei R. Essen zubereiten. Essen. Spaziergang. Nochmaliger Anruf. Einige zusätzliche Informationen, aber immer noch Reste von »NichtWahrhabenWollen«. Ungläubigkeit und (natürlich) Wut. Wir haben nicht vier geredet an diesem Abend. Wozu auch? Jeder weiß, was der andere denkt, fühlt, empfindet ... wozu da noch überflüssige Worte machen? Dazu gleich am ersten Abend das Gefühl, daß es diesmal etwas ganz anderes bedeutet, wenn ich sage: „Ich bin auf einer Insel." - Da ist immer wieder nur Wasser rundherum, und ich kann nicht weg. In eine Situation gekommen, in der ich etwas tun will/muß, genau weiß, daß ich es nicht kann. (Was sollte ich auch tun können als immer nur wieder an die denken, die mittendrin sind.) Diese Hilflosigkeit, die die Wut noch steigert, wird mir in der Inselsituation noch deutlicher. So helfe ich mir, indem ich mir vorstelle, die Insel ist die Welt und ich alles geschah / geschieht hier. Da gibt es diese endlos langen Gänge und Bunker aus den Weltkriegen ... Aber wieso sollten die Verbrecher das Risiko auf sich nehmen und ihr Opfer auf eine Insel schaffen?

Der Kopf ist schön klar, wenn wir hier spazierengehen. (WIR - wenn ich allein gewesen wäre, dann wär´s schlimm geworden.) Und das habe ich bei den vielen Aufenthalten hier auch noch nicht erlebt: Der Kopf ist klar, die Luft ist frisch - eigentlich die besten Voraussetzungen, um auch klar zu denken. Aber das ging nun wirklich nicht mehr. Es ist zu viel.
Ja ja, es ist schlimm und ich kann nichts machen, dürfte ich wohl auch nicht, ist wahrscheinlich zu gefährlich, gefährdend. Also Zurückhaltung ...

Und dann nicht reden können bzw. : zu wenig an Wissen, um nicht immer wieder nur grübeln zu müssen!

Irgendwann dann einmal auch Wut: Warum kann ich das nicht wegschieben? Was geht´s mich an? Nun gut: chronologisch vorgehen (sachlich?): Zuerst war da Monika (und nicht zuletzt ihre Familie), dann kam Thomas (und auch er nicht allein...).

Hamburg - Ostern 96

Abends kommen wir in St. Pauli an und gehen ins Ibis-Hotel: Seltsamer Bau: Gefängnisartige lange Flure, ins Zimmer kommt man mit einer seltsamen Karte. Alles ist ungeheuer funktional eingerichtet und geplant, so daß man sich sehr überlegt und gezielt bewegen muß, um nicht überall anzustoßen. In der Hotelhalle treffen wir einen etwas rappeligen Sebastian. Der Akku seines Handys funktioniert nicht - und das geschieht einem Menschen, der sonst ohne Telefon, Fernsehen, etc. auskommt. Wir gehen raus und rufen in Augsburg an. Ich komme den ganzen Abend fast nicht zu Wort: R. und S. unterhalten sich über seinen Sohn, über Kinderpsychotherapie in Deutschland und Brasilien. So hat er ein anderes Thema und ich kann ja zuhören ... Er wirkt sehr müde und geht dann am späteren Abend. Wir latschen noch diese entsetzliche Reeperbahn herauf und herunter und gehen dann ins Bett.

Am nächsten Morgen versuche ich, Johann anzurufen. Ein Polizist ist am Telefon, stellt einige Fragen, scheint dann aber mit meinem Namen etwas verbinden zu können: wahrscheinlich, weil ich (wie eine Losung) den EKK erwähne. Das Gespräch kommt nicht zustande, weil Johann mit Mandelentzündung (?) im Bett liegt ...

Später - immer wieder und noch einmal von vorn ...

Es gibt Menschen, die ganz weit weg sind ... die man (ICH) in bestimmten Lebenssituationen nicht erreichen kann. Das ist schlimm, wenn man reden muß. Zuerst habe ich es bei Monika bemerkt und ihr auch gesagt: „Jetzt weiß ich endlich, was das Wort »sich aussprechen« bedeutet." Das tut gut, geht aber nicht immer. Zumeist, weil die, mit denen ich reden will, so weit weg sind, daß das für sie alles nur Zeitungsgeschichten sind, von irgendeinem „Hamburger Millionenerben".
Also: geht nicht. - Das Niveau entspricht dem der Presse. Reinfressen geht auch nicht. Also aufschreiben ins Tagebuch und das heißt: CHAOS CHRONOS THANATOS.

Entlebucher-Sennenhund- und Katzen-Kurier

Ein Ort, an dem ich mich immer sehr wohl gefühlt habe ... In Augsburg angekommen, habe ich alle Nummern noch einmal und ganz anders gelesen ...

Zwei Lektüren

Wieder zuerst ich: Wenn man 51 Jahr alt ist, kommt es selten vor, daß man sagen kann: Zum erstenmal in meinem Leben ... Zum erstenmal in meinem Leben ist es mir aufgegangen: So langsam habe ich noch nie gelesen (von der Grundschule mal abgesehen). Ich hatte sehr viel zu tun zu der Zeit, verspürte mächtigen Zeitdruck, wollte also zuerst einmal vorwärtskommen. Aber schon sehr bald, nach wenigen Seiten, war der Druck weg und ich konnte lesen, langsam und wirklich Wort für Wort. Nun sind auch schon wieder 10 Tage vergangen und es hat sich wenig geändert an meinem Gefühl, an meinen Gedanken, undsoweiter ...

Zuerst hatte ich mit einer Behauptung Jan Philipps Schwierigkeiten: Natürlich hast Du Erkenntnisse mitgebracht aus dem Keller, natürlich ziehen nicht nur Menschen mit ähnlichem Schicksal einen ‘Gewinn’ aus der Lektüre ...
Es galt (für mich) der Satz der Bremer Stadtmusikanten: „Etwas besseres als den Tod finden wir allemal." Seit ich ihn zum erstenmal hörte, war er von eine unvergleichlichen Selbstverständlichkeit. Natürlich! Ist doch klar! Der Tod ist das schlimmste Ereignis für den Menschen, es kann nur noch aufwärts gehen. - Ist eben nicht klar. Ist falsch. Ich kann es nicht nachvollziehen, aber ich glaube es. Es überzeugt mich. Und so etwas kann - verdammt noch mal! - das Leben ändern. Hoffentlich ändert es sich.
Das war das Schlimmste.
Das Schönste war: - ein ‘Spiel’: „Alle drei machen".

Wichtig war und ist auch: Ich weiß jetzt, was das ist: WÜRDE


Fat man looking in a blade of steel
Thin man looking at his last meal
Hollow man looking in a cottonfield
For dignity

Wise man looking in a blade of grass
Young man looking in the shadows that pass
Poor man looking through painted glass
For dignity

Somebody got murdered on New Year´s
Eve Somebody said dignity was the first to leave
I went into the city, went into the town
Went into the land of the midnight sun
Searchin´ high, searchin´ low
Searchin´ everywhere I know
Askin´ the cops wherever I go
Have you seen dignity?

Blind man breakin´ out of a trance
Puts both his hands in the pockets of chance
Hopin´ to find one circumstance
Of dignity

I went to the wedding of Mary-lou
She said: I don´t want nobody see me talkin´ to you
Said she could get killed if she told me what she knew
About dignity
I went down where the vultures feed
I would´ve gone deeper, but there wasn´t any need
Heard the tongues of angels and the tongues of men
Wasn´t any difference to me
Chilly wind sharp as a razor blade
House on fire, debts unpaid
Gonna stand at the window, gonna ask the maid
Have you seen dignity?

Drinkin´ man listens to the voice he hears
In a crowded room full of covered up mirrors
Lookin´ into the lost forgotten years
For dignity
Met Prince Phillip at the home of the blues
Said he´d give me information if his name wasn´t used
He wanted money up front, said he was abused
By dignity

Footprints runnin´ cross the silver sand
Steps goin´ down into tattoo land
I met the sons of darkness and the sons of light
In the bordertowns of despair
Got no place to fade, got no coat
I´m on the rollin´ river in a jerkin´ boat
Tryin´ to read a note somebody wrote
About dignity

Bob Dylan


Dies sind einfach nur Gedanken, wie sie grad kommen - chaotisch durcheinander - ohne System - ich kann keine Ordnung finden ...

Der, der mir immer näher rückt, je mehr ich lese und drüber nachdenke, ist Johann. Er hat zusammengehalten, ist stark ...

Verdammt noch mal wo ist dieses Atlantic-Hotel? - Gegenüber Ibis -Wann war ich dort? Wann redete Schwenn von dort oder von einem anderen Ibis????

SCHWENN:  Während der 33 Tage taucht immer wieder dieser Name auf. Monika, Thomas erzählen am Telefon und schimpfen. Ein Reflex bei mir: Ich muß diesen Menschen verteidigen. Verdammte Scheiße, wenn´s ums Leben und mehr geht, kann und darf (?) ein Mensch versagen. Jetzt, nachdem ich Kathrins Aufzeichnungen gelesen habe, kann ich wirklich nur einen Fehler bei diesem Menschen feststellen: Er weiß nicht wer er ist und was er kann. Ich kann nun wirklich nicht behaupten, daß ich mich voll im Griff habe, daß ich in meine tiefsten Tiefen abgestiegen bin, aber das weiß ich, wenn es um das Leben eines Menschen geht, wenn mir dieser Mensch einiges (?!!) bedeutet, dann kann ich mich nicht in den Vordergrund stellen und so tun als sei ich der, der ich nicht bin. Aber das hat er gemacht. Und deshalb muß man ihn verurteilen. Ich (z.B.) hätts Frühstück machen können. Autofahren trau ich mir nicht mehr zu. Mit ein wenig Übung vielleich. Aber: nein, es geht nicht. Alle Fehler dieses Anwalts sind nur Folgefehler und als Schulmeister weiß ich: Folgefehler sind entschuldbar. Aber: Der erste, der ‘Grund’-Fehler ist der entscheidende. Und daher ist er zu verurteilen, der Anwalt.

Eine Lektüre
 
IM KELLER

später ... im NachHinein ... das niedergeschrieben, was geschah mit den Menschen (ICH & ER) in einer Weise, die einzigartig ist und auch nachvollziehbar für die, die ähnliches nicht erleben mussten. Ein großes, ein wichtiges und ein weises Buch.

Es muss gelesen werden.


AbiturRede 2000
 

Immer wieder mal — gelegentlich — wundere ich mich darüber, daß Schülerinnen und Schüler wirklich das tun, was ich ihnen sage. Warum eigentlich? Warum sagen sie nicht einfach: „Ich habe keine Lust." Da werden sie nun jeden Tag von 8 bis 1 ‘entführt’ und mucken kaum auf. Etwa weil sie das gleiche Ziel haben wie ihre ‘Entführer’? Oder weil sie eingesehen haben, daß sie noch nicht so weit sind, daß sie „sich [ihres Verstandes] ohne Leitung eines anderen bedienen können"?

Das ist der Traum des Lehrers: daß die Schüler und Schülerinnen ihn als ‘Anleitenden’ akzeptieren, zumindest so lange, bis sie zu wirklich ‘aufgeklärten’, gebildeten Menschen herangewachsen sind. Dann können sie sich die Freiheit nehmen, uns (die Lehrer und Lehrerinnen) zu entlassen. — Es wäre schön, es würde mich freuen, wenn es denn so wäre, daß nicht wir Euch, sondern Ihr uns verabschiedet.

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
und:
Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!
ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Und damit wäre ich bei dem Text, dem kein Schüler, keine Schülerin entgehen kann: Immanuel Kants Antwort auf die Frage des Pfarrers Johann Friedrich Zöllner Was ist Aufklärung. Es gibt wohl kaum eine andere Schrift, die so wenig der Interpretation bedarf wie diese. Also keine Angst: Ich werde hier nicht den Deutschlehrer spielen, ich möchte nur einer (meiner) Hoffnung Ausdruck verleihen, daß es uns in den vergangenen neun, zehn oder vielleicht sogar elf  Jahren gelungen ist, Euch soweit zu bringen, daß Ihr dieses autos epha der Aufklärung in dem Leben, das vor Euch liegt, verwirklichen könnt und daß wir dazu beitragen konnten, daß Ihr nun mit gutem Recht sagen könnt, daß Ihr aufgeklärte, gebildete Menschen seid, daß Ihr Euch Eures eigenen Verstandes bedienen könnt. Und nun macht es auch, sonst seid Ihr selbstverschuldet unmündig.

Ich freue mich, daß ich hier reden darf — nicht nur weil ich (alte Lehreruntugend!) mal wieder das letzte Wort haben will, sondern weil ich die Hoffnung hege, ein klein wenig mit dazu beigetragen zu haben, Euch diesem Ziel der Aufklärung näher gebracht zu haben. Und weil ich mich freue, darf ich auch ein wenig sentimental bzw. empfindsam werden und mich an die Abiturrede erinnern, die ich vor zweiunddreißig Jahren (1968!) selbst hören mußte. Und da hieß es doch wirklich (ich lüge nicht!): „Und so entlassen wir Euch hinaus ins Leben!" Eine Frechheit! Als ob wir bis dahin nicht gelebt hätten, als ob die da oben das Recht hätten, uns zu entlassen, wohin auch immer! Wir haben sie entlassen, wir brauchen sie nicht mehr, wir sind frei! — Ihr seid frei! Ihr braucht uns nicht mehr! Ihr entlaßt euch selbst! Ihr habt es Euch verdient!

Neun Jahre begreift man es nicht, kann und will es auch wohl nicht verstehen, was da so alles an Bildung (oder was für Bildung ausgegeben wird) an den einzelnen herangetragen wird. — Was können wir damit anfangen? Wozu brauchen wir das? Na, ganz einfach: Damit Ihr frei, aufgeklärt und gebildet (das sind Synonyme!) diese Anstalt verlassen könnt.

Schade! Schade deshalb, weil es mich (ich darf empfindsam sein!) jedesmal — und das nun schon seit einem Vierteljahrhundert! — traurig macht, wenn Menschen, die ich mag, einfach so von mir weggehen. Aber es muß sein!

Ein gutes Leben wünsch ich Euch! — Und: Schaut doch mal gelegentlich wieder vorbei!

(Rede, gehalten zur Verabschiedunge der Abiturienten, 30. 06. 2000)

Mein Traum-Baukasten

Zu Weihnachten wünsche ich mir einen Traum-Baukasten; zuerst einmal nur den für Anfänger. Mit ihm kann der Traum-Bastler sich seine Umgebung, seinen Ort nach seinen eigenen Vorstellungen zusammenbasteln.
Und das geht so:
Wenn ich morgens wider Erwarten gut gelaunt aufwache, war ich während der Nacht in einem Traum bestimmt auf einer Insel: Auf jeden Fall war Wasser um mich herum. Besonders schön war es, wenn die Insel nur soweit vom Festland entfernt war, daß ich von ihr aus eine Wattwanderung nach drüben machen konnte. Noch schöner wird der Ort, wenn ich ihn in 2 – 3 Stunden am Strand entlang umrunden kann. Am schönsten ist es, wenn ich bei der Rückkehr in eine Teestube gehen kann und dort einen heißen Tee und ein noch warmes Stück Apfelkuchen bekomme.
So:
Mit meinem Traum-Baukasten kann ich mir nun diesen Ort selbst herstellen. Mit einer Art Laubsäge werden alle Einzelteile in der richtigen Größe, etc. ausgeschnitten und dann zusammengefügt: Insel, Meer, Festland, Häuser, Natur (Tiere, Pflanzen, Bäume). Schwierig ist die Herstellung des Klimas: abwechslungsreich muß es sein, viel Wind, viel Sonne ...
Ich werde ganze Tage mit meinem Traum-Baukasten verbringen können. Die großen Teile herzustellen wird nicht schwierig sein, aber die kleinen Dinge, die Details ... Und wenn ich dann endlich fertig bin, werde ich feststellen, daß es das alles schon gibt: Ich kenne das ja schon! Das liegt da oben im Norden! Die Größe der Insel und die Entfernung zum Festland: Das könnte Baltrum sein; die Teestube steht auf Spiekeroog; das Klima und sehr, sehr viele wichtige Kleinigkeiten finde ich auf Helgoland.
Was sind Kleinigkeiten?
- Da ist zum Beispiel das Fischlokal auf Helgoland mit der köstlichen Seezunge, dem exellenten ‘Duckstein’-Bier und dem Linie-Aquavit (hinterher).
- Da ist der Flug in dem kleinen Sechsitzer von Bremerhaven auf die Insel: die Nordsee als Badewanne mit kleinen Spielzeugschiffchen.
- Da sind die Dünen von Spiekeroog: Da kannst du dich verlieren und versinken in Sand und Wind.
- Da sind die Spaziergänge auf Hallig Hooge: keine großkotzigen Berge versperren die Sicht und der Blick und die Gedanken werden frei.
- Da ist die graue Stadt am Meer (mit den wunschönen Gedichten und Geschichten von Theodor Storm).
Spätestens an dieser Stelle wird der aufmerksame Leser feststellen, daß in meinem Traum vom Traum-Baukasten keine Menschen vorkommen. Die kenne ich ja bereits und die will ich mir auch nicht mit meiner „Laubsäge" zurechtschneiden. So wie sie sind, sind sie gut. Der wichtigste Teil meiner Träume ist schon Wirklichkeit geworden, und so kann ich auf den „Traum-Baukasten für Fortgeschrittene" verzichten. — Es sei denn, ich könnte mir Klaus Störtebecker noch einmal zurück nach Helgoland holen ...


veröffentlicht in: die annalen. indeenmagazin der schüler des anna-gymnasiums, ausgabe 67, Augsburg, 18.12.2000, Seite 11.

und damit ist ein Schlußstrich gesetzt unter diesen ersten Teil der TraumTragödie; weiter geht´s in der Neuen Folge: Texte und anderes ab 2000/2001 ...