ÜBER DIE ZUSAMMENHÄNGE ZWISCHEN
GEHEN, DENKEN UND GEISTESKRANKHEIT.
Eine Studie
 

das komprimierteste, am meisten philosophisch-wissenschaftliche werk thomas bernhards, das zugleich sein rücksichtslosestes ist, und dabei doch von einem so hohen grad von künstlichkeit, daß das denken zu eis gefroren scheint, ist der 1971 erschienene prosatext 'gehen'. alle bedeutenden themen, motive, etc. (wenn es deren überhaupt mehrere gibt!), die er (th.b.) je irgendwo angerührt hat, sind in diesem 96 textseiten umfassenden höchst künstlerischem prosaessai enthalten.

es ist (meiner ansicht nach) das (für mich) bedeutendste werk dieses 'österreichischen' 'dichters'.

1
Während ich, bevor Karrer verrückt geworden ist, nur am Mittwoch mit Oehler gegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Karrer verrückt geworden ist, auch am Montag mit Oehler. Weil Karrer am Montag mit mir gegangen ist, gehen Sie, nachdem Karrer am Montag nicht mehr mit mir geht, auch am Montag mit mir, sagt Oehler, nachdem Karrer verrückt und sofort nach Steinhof hin-aufgekommen ist. (Seite 7)

in zwei sätzen wird in tiefer künstlerisch-wissenschaftlicher weise ein verhaltenskomplex ausgedrückt, zu dessen verwirklichung es jahre und große mühe, verbunden mit der äußersten intensivsten geistesanstrengung, gebraucht hat und der nun in der folge von größter bedeutung sein wird. es ist alles selbstverständlich geworden, was doch nie selbstverständlich war und sein durfte. aufgabe des textes (der studie?) ist es, zu zeigen, wie und auf welche art und weise Karrer durch sein  g e h e n  mit Oehler und durch sein denken, das sich in dem gehen mit Oehler auszudrücken suchte (seinen ausdruck fand), verrückt geworden ist. die frage lautet also: wie hat es Karrer geschafft, durch sein gehen, das ja nichts anderes bedeutet als: durch sein denken verrückt zu werden? werden wir berührt durch das werk thomas bernhards, insbesondere durch den text 'gehen', so müssen wir uns gedanken machen »über die zusammenhänge zwischen gehen, denken und geisteskrankheit«.
versuchen wir also hinter diese zusammenhänge zu kommen, indem wir einige ausgewählte, für den zusammenhang des buches und damit für den zusammenhang seiner sprach- und geisteswelt konstituierende textstellen zu interpretieren (zu versuchen zu interpretieren). dies zu-erst.

2
Von einem Augenblick auf den anderen überhaupt nichts mehr akzeptieren, heißt Verstand haben, keinen Menschen und keine Sache, kein System und naturgemäß auch keinen Gedanken, ganz einfach nichts mehr und sich in dieser tatsächlich einzigen revolutionären Erkenntnis umbringen. Aber so zu denken, führt unweigerlich zu plötzlicher Geistesverrücktheit, sagt Oehler, wie wir wissen... (Seite 13)

die einzige konsequenz radikalen denkens, und nur das radikale denken hat einen anspruch darauf, 'denken' genannt zu werden, denn alles andere ist vorgedachtes denken, ersatzdenken, nicht einmal nachdenken, ist, daß der radikale denker in eine irrenanstalt eingeliefert wird; denn eine wiederkäuendes denken produzierende gesellschaft kann verstandesmenschen nicht akzeptieren, die sich in ihrem radikalen denken gegen das system stellen, indem sie sich selbst töten.

aber schon allein die erkenntnis der konsequenz dieses radikalen denkens kann von der gesellschaft nicht geduldet werden, da durch sie (die erkenntnis) das ganze system von geschichte, staat, familie und (siehe 'gehen', seite 16 ff) kindermachen unterminiert wird. das wirkliche denken isoliert; und je mehr es wirkliches denken ist, desto mehr isoliert es und nur in der äußersten isolation kann ein mensch dann auch naturgemäß denken. erst wenn er sich von allen begriffen frei gemacht hat, wenn er erkannt hat, daß alle begriffe der sogenannten wissenschaft eine einzige lüge sind, kann er sich isolieren und folglich denken. doch je mehr sich die isolation vergrößert, desto geringer wird der abstand des denkens von plötzlich einsetzender geistesverrücktheit. und dieser übergang von äußerster isolation zu plötzlicher geistesverrücktheit kann durch den sogenannten menschlichen verstand unmöglich erfaßt werden. Es ist ein Augenblick, sagt Oehler, in welchem die Verrücktheit eintritt. Es ist ein einziger Augenblick, in welchem der Betroffene plötzlich verrückt ist. (Seite 23 f)

3
Die Zustände werden durch unser Denken naturgemäß, sagt Oehler, zu immer noch unerträglicheren Zuständen. Denken wir, wir machen die unerträglichen Zustände zu erträglicheren Zuständen, so müssen wir bald einsehen, daß wir die unerträglichen Zustände nicht zu erträglichen und auch nicht zu erträglicheren Zuständen gemacht haben (machen haben können), sondern nur noch zu noch unerträglicheren Zuständen. Und mit den Umständen ist es wie mit den Zuständen, sagt Oehler, und mit den Tatsachen ist es dasselbe. Der ganze Lebensprozeß ist ein Verschlimmerungsprozeß. (Seite 11)

auch hier wieder: die konsequenzen eines radikalen und das heißt an die wurzel gehenden denkens; die fürchterlichen konsequenzen einer zu ihrem ende hin gedachten idee! verfolgen wir einen gedanken zu seinem ursprung zurück, zu seiner herkunft, so wird dieser denk-prozeß für uns naturgemäß zu einem fürchterlichen. denken ist, wenn es ernsthaft und mit der notwendigen radikalität gedacht wird, zugleich fürchterlich, aber doch auch befreiend. es befreit uns von den von außen uns aufgezwungenen denksystemen, die das denken aller menschen mehr oder weniger beherrschen. die erkenntnis, zu der wir durch jenes wirkliche denken gebracht werden, ist für uns immer unerträglich, egal um welchen denkgegenstand es sich handelt; denn jede erkenntnis nimmt uns sicherheit. vorgefaßte denkschemata werden aufgebrochen und zerstört; denken ist naturgemäß ein zerstörungsprozeß: wir erkennen, müssen erkennen, daß die zustände nicht so sind, wie wir sie uns vorgestellt haben, das heißt, sie werden unerträglicher, müssen unerträglicher werden, denn wir haben keine vorgefaßten begriffe mehr, mit denen wir sie erfassen können. denken ist schön und schmerzlich zugleich.

4
Existenz ist Irrtum, sagt Oehler. Damit müssen wir uns früh genug abfinden, damit wir eine Grundlage haben, auf welcher wir existieren können, sagt Oehler. Der Irrtum ist folgerichtig die einzige reale Grundlage. Aber an diese Grundlage als Grundsatz zu denken sind wir nicht immer verpflichtet, das müssen wir nicht, sagt Oehler, das können wir nicht. Wir können immer wieder nur Ja sagen in dem, zu dem wir bedingungslos Nein sagen müssen, verstehen Sie, sagt Oehler, das ist die Tatsache. (Seite 46)

dazu läßt sich eigentlich nichts weiter sagen; wir müssen uns halt damit abfinden (siehe auch den exkurs übers kopflose kindermachen in 'gehen', seite 16 ff). kindermachen / existenzenmachen ist ein unverzeihlicher irrtum der menschen. unsere existenz beruht auf einem irrtum, sie ist in letzter konsequenz des denkens tödlich. und eine existenz, die in letzter konsequenz des denkens tödlich ist, kann auf nichts anderem als einem irrtum beruhen. von daher ist auch der bedeutendste satz thomas bernhards zu verstehen, der da lautet: ES IST ALLES LÄCHERLICH, WENN MAN AN DEN TOD DENKT.

5
Indem wir nicht alles bezeichnen und dadurch niemals absolut denken können, existieren wir und gibt es außer uns Existenz. (Seite 32)

je weiter fortgeschritten unser denken ist, desto isolierter ist es, desto weniger können wir es anderen mitteilen. unser denken wirft einen unüberwindlichen graben auf zwischen uns und unseren mitmenschen, die anders oder nicht so weit oder nicht so radikal denken wie wir. nur weil es außer uns etwas gibt, was wir noch nicht denkend erfaßt haben, können wir überhaupt denken, und weil wir bzw. wenn wir weiter denken können, können wir existieren (hier ist auch einmal heidegger angebracht: ek-sistieren - herausragen aus dem, was uns umgibt, aus der masse.).

aber das absolute ist erstrebenswert; wenn wir es denkend erreicht haben, gibt es außer uns nichts mehr, jede andere existenz außer uns hat aufgehört zu existieren (zumindest für uns). wir sind in der absoluten isolation unseres denkens angekommen und sind für andere existenzen (die es aber für uns nicht mehr gibt) gefährlich geworden. das nennt man dann (noch einmal und immer wieder bis zum überdruss): geistesverrücktheit.

6
Denn daß in diesem Staat nur das Stumpfsinnige und die Mittellosigkeit und der Dilettantismus geschützt sind und immer wieder gefördert werden und daß in diesem Staat nur in das Stümperhafte und in das Überflüssige alle Mittel gestopft werden, ist klar. Das sehen wir tagtäglich in Hunderten von Beispielen. (Seite 36)

diese an die adresse österreichs gerichtete polemik gilt natürlich nicht nur für dieses land. sie gilt für alle sogenannten kulturstaaten. überall blüht der stumpfsinn und wird die überragende geisteskraft in irrenhäuser interniert oder durch unglaubliche infamie auf die schändlichste weise zugrunde gerichtet und in allerletzter konsequenz zum selbstmord getrieben; das nennt man dann kulturstaat.

7
Wenn wir uns einen Geisteszustand, gleich welchen, einbilden, sind wir in diesem Geisteszustand. (Seite 68)

wir können uns eine welt in unserer eigenen nur uns verständlichen sprache einrichten, zu der kein anderer zutritt haben kann und wird. auch hier wieder: die isolation radikalen denkens. die schönheit und schmerzlichkeit radikalen denkens!
 

8
Die Intensität ist immer noch mehr zu steigern, kann sein, einmal überschreitet diese Übung die Grenze zur Verrücktheit, darauf kann ich aber keine Rücksicht nehmen, so Karrer. Die Zeit, in welcher ich Rücksicht genommen habe, ist vorbei, ich nehme keine Rücksicht mehr, so Karrer. Der Zustand der vollkommenen Gleichgültigkeit, in welchem ich mich dann befinde, ist ein durch und durch philosophischer Zustand. (Seite 101)

geist und körper sind untrennbar miteinander verbunden. wenn wir gehen bewegen wir unseren körper und somit naturgemäß auch unseren geist: unser denken setzt sich in bewegung, ein gedankengang beginnt. so wie die umwelt unser denken beeinflußt, so beeinflußt das gehen unsere gedanken, unser denken. so wie uns langes und intensives gehen zu körperlicher erschöpfung führt, so führt uns langes und intensives denken zu geistiger erschöpfung und in letzter konsequenz zu völliger geisteserschöpfung, die wiederum nichts anderes ist als der übergang in die endgültige totale geistesverrücktheit.

die geistigen und körperlichen fähigkeiten und möglichkeiten sind immer mehr zu steigern, zu immer größerer intensität zu bringen, bis zu ihren grenzen zu steigern. überschreitet man diese grenzen, so führt diese grenzüberschreitung uns naturgemäß aus den grenzen menschlicher geistes- und körpersysteme in das system der verrücktheit (geistes- und körperverrücktheit?). gefährlich ist es, auf diesem wege der erkenntnis sich von rücksichtnahmen leiten zu lassen; nur durch eine radikale rücksichtslosigkeit im geistigen wie im körperlichen bereich können wir zu uns wirklich befriedigenden erkenntnissen kommen. wir gehen über unsere grenzen hinaus. wir gehen und denken und führen unser denken und gehen mit der dafür notwendigen rücksichtslosigkeit zu immer größerer intensität und schließlich, wenn wir radikal und ehrlich genug unsere gedanken an ihre grenzen geführt haben, in die völlige und endgültige geistesverrücktheit, das ziel all unseres denkens und gehens.

Es ist ein ständiges zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Kopfes Denken und zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Hirns Empfinden und zwischen allen Möglichkeiten eines Charakters Hinundhergezogenwerden. (Seite 5)

gehen wir, so denken wir, denken wir ehrlich und radikal genug, so führt uns unser denken in die verrücktheit. dies der zusammenhang.