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KAPITEL 1
... worin gezeigt werden soll wie das schreiben über literatur literatur nicht vernichten kann ...
dargestellt an einem *abschreckenden* Beispiel:

Heinz Schlaffer:
Die kurze Geschichte der deutschen Literatur
München 2002, Hanser Verlag

Erst jetzt, nachdem einer der großen Philologen im Lande, die "Unzeitgemäßen Betrachtungen" Nietzsches im Rücken, gegen den antiquarischen Geist seines Faches zu Felde gezogen ist, erkennen wir, wie staubtrocken und urteilsschwach die historisch-philologischen Disziplinen trotz ihrer Lust an immer neuen methodologischen Maskeraden im Lauf der Zeit geworden sind. Und bitten jetzt, der polemische Essayist, der den Staub der Germanistik aufwirbelt, möge Nachahmer in anderen Fächern finden. Man stelle sich vor: ein Buch wie dieses aus der Mitte der Historie oder der Philosophie ... nicht auszudenken, das Glück. (Ulrich Raulff: Der rebellische Mandarin, in: Süddeutsche Zeitung, München, vom 26. 02. 2002.

Ein Beispiel:
Undeutbare Geschichten, befremdliche Bilder, riskante Gedanken, unvorhersehbare Experimente in einer entfesselten Sprache - jene Freuden also, wie sie die süd- und nordamerikanische Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereitet, muß der Leser der deutschen Gegenwartsliteratur vermissen. Wo solche Möglichkeiten sich andeuten, in Grass´ und Schmidts frühen Romanen, werden sie sogleich durch humoristische Schmunzeleffekte verkleintert. (Seite 150)
Diese beiden Sätze müßten eigentlich reichen, um dem Buben das Handwerk zu legen. Aber der Quark, den er breitgetreten und (vor allem) der Staub, den er aufgewirbelt hat, verlangen nach mehr.

Schlaffer vertritt eine solche Fülle fragwürdiger Thesen, dass es nicht möglich ist, auch nur auf die Hälfte davon einzugehen. (...) Es mag ihm mit der Germanistik gehen wie Prousts Monsieur Swann mit seiner einstigen Liebe Odette, als er erkennt, dass er seine ganze Leidenschaft für eine Frau verschwendet hat, "die sein Genre nicht war". (Martin Mosebach: Fromme Enttäuschung, in: Süddeutsche Zeitung, München, vom 05. 03. 2002.

Geschichte der Literatur

Literarische Werke [was ist das?] unterliegen, je mehr Zeit seit ihrer Entstehung vergangen ist, einer desto strengeren Auswahl. Zunächst entscheiden sich die zeitgenössischen Leser für das offenbar Zeitgemäße unter den Neuerscheinungen, [für wie blöd hält der herr professor die leser, die nach seiner meinung modeleser sind? als ob nicht jeder leser auch eine geschichte hat, eine geschichte ist. als ob nicht die lektüre eines lesers aufbaut auf der geschichte der lektüren des lesers bisher. hier kann doch wohl nur die rede sein von lesern, die nicht modebestimmt sind, sondern "auf den schultern von riesen stehen", um von dort einen weiteren (aus)blick zu haben.] dann die späteren Leser für die erinnernswerten unter den einst erschienenen Büchern. [und die unzahl der lesefehler, die die gemacht haben, übertrifft die zahl der sterne.] Literaturhistoriker sind die spätesten Leser, die einem nachgeborenen Publikum vergegenwärtigen, was von früheren Werken noch lesenswert sei. [hat diese spezies kriterien?] In diesem zeitlich gestaffelten Auswahlverfahren werden die Kriterien nicht nur strenger, sondern auch anders, [aha!] so daß sich die Nachwelt oft gerade jener Werke erinnert, die die Mitwelt übersah. Über das, was Gegenstand einer Literaturgeschichte ist, entscheidet also nicht die Mitwelt [gegenbeispiel: Goethe über Wieland.], sondern die Nachwelt [gegenbeispiel: Arno Schmidt über Wieland.], nicht die Zeit, sondern das Gedächtnis [alzheimer]. Was eine Literaturgeschichte beachtet oder nicht beachtet, hängt davon ab, wie sie es bewertet (auch wenn sie sich dieser Voraussetzung gar nicht bewußt ist). Die Bewertung wiederum kann sich nur auf ein ästhetisches Urteil berufen: auf das künstlerische Niveau der Werke, wie es sich später kompetenten, d.h. im Umgang mit der Literatur verschiedener Epochen erfahrenen Lesern zeigt. Literaturgeschichten können also nicht allein, nicht einmal in der Hauptsache allein aus der Analyse des historischen Materials [ICH habe das letzte wort über den wert eines jeden werkes, sei es ein werk der literatur, der musik, der bildenden kunst ... etc.] hervorgehen, da die Epoche nicht das letzte Wort über den Wert ihrer Werke haben darf. Ob Literaturgeschichten einer altmodischen biographischen, einer herkömmlichen ideengeschichtlichen oder modern sozial- und funktionsgeschichtlichen Methode folgen — sie bleiben alle einem positivistischen Mißverständnis verhaftet, wenn sie die Wiedergabe der historisch vorgegebenen Strukturen zu ihrem Grund und Ziel erklären. Literaturgeschichten verschweigen ihre Abhängigkeit von ästhetischen Urteilen und vom Kanon der Nachwelt, weil sie die Entscheidungen, die zu diesem Kanon geführt haben, für subjektiv, für ideologisch bedingt, also für unwissenschaftlich halten. [also soll sich jeder um seine eigene (subjektive) literaturgeschichte bemühen, sie selbst schreiben. und die, die sich für kompetent halten, sollen uns das material korrekt (!) bereitstellen und nicht immer die orthographie "behutsam modernisieren", um so eine existenzberechtigung zu erhalten.] Die Beschreibung historischer Prozesse dagegen gilt als wissenschaftlich lösbare Aufgabe; daher beschränkt man sich bei der theoretischen Begründung der Literaturgeschichte auf eine historische Aufgabe, während man in der Praxis uneingestanden dem ästhetischen Kanon folgt. Der ästhetische Maßstab ist also faktisch wirksam, bleibt aber methodisch ungeklärt. [was folgt daraus? und - was ist zu tun?]
   Der eigentliche Aufbewahrungsort der Literatur ist nicht die vergangene Geschichte, sondern die gegenwärtige Bibliothek [meine gegenwärtige bibliothek]. Was die vergangenen Werke präsent hält, ist also eine sichtbare Institution [scheiß auf die institutionen! - zumindest so wie sie jetzt sind.] mit greifbaren Gegenständen und nicht eine metaphysische Substanz. Ohne die materielle Gestalt des Buchs könnte, nachdem die Techniken mündlicher Überlieferung aufgegeben worden sind, kein Werk der Dichtung die Zeit seiner Entstehung überdauern. [den gegenbeweis versucht die internetseite "www.literatur-live.de" anzutreten.] Ob die Bibliothek diese ideale Gleichzeitigkeit der Literatur lediglich spiegelt oder erst erzeugt, muß nicht entschieden werden. In jedem Fall ist die Bibliothek als Archiv der Editionen und als Resource der Neubewertungen die materielle Grundlage des literarischen Kanons. Man könnte zu Borges und zu Vergil, zu Büchner und zum Nibelungenlied greifen, ohne auf Entstehungsdaten zu achten. Der Kanon, ein Extrakt der Bibliothek verwandelt das historische Nacheinander der verfügbaren Bücher in ein Nebeneinander der zu lesenden Bücher. Er folgt keiner zeitlichen Ordnung, er stellt das ideelle Ensemble dar, das im literarischen Bewußtsein eines einzelnen Lesers — in Übereinstimmung mit anderen genußliebenden oder pflichtbewußten Lesern — präsent sein sollte. [noch einmal: so stelle ich mir die aufgabe der literaturwissenschaft vor: in der sehr genauen, korrekten, d.h. originalgetreuen bereitstellung der texte. - und: vielleicht noch wichtiger: in der erziehung möglichst vieler menschen zum guten lesen. (vgl. Chr. M. Wieland: Wie man ließt).]
   Wer um 1800 zu den Gebildeten gehörte, las gleichzeitig mit den neuen Werken Schillers oder Jean Pauls die zurückliegenden (und eben nicht vergangenen) Werke Rousseaus, Horaz´, Shakespeares, Homers. Jeder Epoche der Literatur ist das Prinzip kanonischer Selektion immanent: Einige Werke leben in immer neuen Zeiten weiter und überleben auch diese wieder. Bis ins 19. Jahrhundert überwog das klassische Pensum die Lektüre zeitgenössischer Autoren. Das literarische Wissen eines Lesers kommt durch eine doppelte Ausrichtung zustande: auf die alte wie auf die neue Literatur. [allgemeinplätzchen!] Für jene ist das mahnende Gedächtnis des Kanons zuständig, für diese die dienende Aufmerksamkeit der Kritik. [meint er das wirklich ernst? : "dienende Aufmerksamkeit" (?).] Wenn es die Aufgabe der Literaturgeschichte sein sollte, die vergangene Literatur für die Gegenwart verständlich zu machen, dann darf sie ihre Bereitschaft zur Kanonbildung nicht abstreiten. Die unüberschaubare Fülle aller Werke, die je geschrieben wurden, muß auf jene begrenzt werden, die noch für die Nachwelt bedeutsam sind oder bedeutsam werden sollten. [was ist denn das für ein ton? deutlicher kann sich der zensor wohl nicht mehr bloßstellen. literaturwissenschaft als vormund der nachwelt - ein schöner traum, der hier anscheinend in einigen universitätsetagen geträumt wird.] Der Kanon wandelt sich zwar unablässig, doch ist er nie außer Kraft gesetzt. Er [nun sprich schon: wer zum teufel ist der »kanon«???] erstellt einen Katalog von Dichtern und ist zugleich auf doppelte Weise deren Produkt, indem er jene exemplarischen Werke hervorhebt, die späteren Dichtern wieder zum Vorbild wurden, er weist deshalb auch auf eine mögliche Zukunft voraus, in der sich vielleicht die Hoffnung der lebenden Dichter erfüllt, daß auch ihren Werken das Prädikat des Klassischen zuerkannt werde. [... zuckererbsen für alle ...]
   Ein Prinzip, das allen Literaturgeschichten zugrunde liegt, das sie sich aber selten bewußt machen, hat diese Kurze Geschichte der deutschen Literatur geleitet: die Unterscheidung des Geglückten vom Mißglückten. [nu isser völlich durchgeknallt] Eine solche Unterscheidung ist die elementare Aufgabe der Kritik, von den alexandrinischen Philologen, die den bis heute gültigen Kanon der griechischen Epen, Dramen und Gedichte zusammengestellt haben, bis zu den Mitgliedern heutiger Jurys, die Literaturpreise vergeben. [so weit kommt´s noch!] In der Bibliothek von Alexandrien, aber auch bei den Rezensionen in Tageszeitungen sind dieser kritischen, d.h. wörtlich »unterscheidenden«, Tätigkeit einzelne Werke unterworfen. Sie dehnt sich jedoch auf ganze Epochen aus, sobald deutlich wird, daß ausgezeichnete Schriftsteller zu bestimmten Zeiten gehäuft [weil der teufel immer auf den größten haufen scheißt.] auftreten. »Goldene Zeitalter« der Literatur fielen bereits Griechen und Römern auf; eine »silberne Latinität« war der »goldenen« zeitlich und im Rang nachgeordnet. Jede der neuzeitlichen Literaturen erreicht und feiert ihr Siglo de Oro, ihr Age classique, auch die deutsche Literatur, reichlich spät, eine begünstigte klassisch-romantische Epoche. Wegen der ungleichen Verteilung dichterischer Leistungen im Laufe der Geschichte ist es nicht angemessen, sämtliche Jahrhunderte gleichmütig zu betrachten und deren literarische Produktion in gleichmäßigen Proportionen darzustellen.[hirnriß]
   Seitdem es Kritiker gibt, wehren sich die Dichter gegen sie. [und das ist gut so.] Doch sie gehören von Anfang an zur Dichtung, denn sie tritt nur im Wettstreit auf, der nicht ohne Richter auskommt. Vom Wettstreit der Sänger erzählen bereits die ältesten Epen; für das älteste Theater, das der athenischen Dionysien, reichten konkurrierende Dramatiker ihre Stücke ein, über deren Aufführung eine eigens eingesetzte Kommission entschied. Von Gelegenheitsdichtung abgesehen, entstehen und stehen literarische Werke in Auseinandersetzung mit anderen Werken: Jedes Werke möchte das Meisterwerk sein, neben dem die Vorgänger, Mitbewerber und Epigonen verblassen. [welch ein schwachsinn. ein werk, das (nur) darauf aus ist, besser zu sein als ein anderes, den lorbeerkranz zu erringen, wird sehr schnell untergehen. der herr professor möchte wohl gern die pokale verleihen, möchte, daß der poet zu ihm aufschaut.] Lob von Kennern, Krönung zum poeta laureatus, Aufnahme in den Kanon der Klassiker — ohne solche Auspizien des Ehrgeizes ist das Leben der Literatur so wenig denkbar wie ihr Fortleben. [und jetzt knallt er ganz durch: schön, wenn man eine ewigkeit-verleihende-instanz ist, wenn man als kenner das lob austeilen kann, nach dem der arme poet lechzt.] Der sterbliche Dichter wünscht, durch sein Werk unsterblich zu werden, [davor hat die "vorsehung" die "literaturwissenschaft" gesetzt.] seine Existenz — als Name, als Geist, als Erinnerung? — über die beschränkte Zeit seiner Tätigkeit hinaus auszudehnen. Weil er ein geistiges Produkt hergestellt hat, das an Raum und Zeit nicht streng gebunden ist, glaubt sein Produzent ebenfalls ein gewisses Anrecht auf Unsterblichkeit erworben zu haben. Ob dieser Traum von einer irdischen, und doch fast überirdischen, Fortdauer durch das Werk unter dem Titel eines »Klassikers« in Erfüllung geht, liegt ganz in den Händen seiner späteren Leser. [natürlich ist hier der professionelle leser gemeint.] Unsterblichkeit ist freilich ein pathetisches Wort, aber Dauer — bei einigen Dichtungen beträgt sie immerhin schon mehr als zweitausend Jahre — eine nüchterne Feststellung. Geschichtliche Darstellungen werden der doppelten Existenzweise künstlerischer Werke nur gerecht, wenn sie zwischen Zeit und Dauer, zwischen Genese und Geltung einen Ausgleich zu finden wissen. Eine Literaturgeschichte, die das agonale Prinzip aller Künste im Panorama der Geschichte abzubilden versucht, muß sich demnach auf die ästhetische Innovationen innerhalb einer Epoche konzentrieren, denen paradoxerweise aber erst das Urteil der Nachwelt außerordentlichen Rang und nachhaltige Bedeutung zuerkannt hat.[ja, wenn er dazu in der lage wäre. - und wieso : paradoxerweise - schlimm wär´s, wenn´s anders wär.]
   Um die historischen Bedingungen zu verstehen, die das Gelingen des Gelungenen ermöglicht haben, müssen hinter den namentlich bekannten Autoren und Werken die anonymen Energien aufgespürt werden, die — über das Talent des einzelnen hinaus — für Niveau und Charakter einer territorial und zeitlich begrenzten literarischen Produktion verantwortlich sind. [persongewordene energie, die nun einen namen hat: Heinz Schlaffer.] Doch selbst der Rückgriff auf kollektive Strukturen hinter den individuellen ästhetischen Verwicklungen hat in dieser Kurzen Geschichte der deutschen Literatur den Zweck, die Physiognomie eines Besonderen, eben der Geschichte der deutschen Literatur, zu erhellen.
   In den letzten Jahrzehnten sind mehrere Literaturgeschichten erschienen oder noch im Erscheinen begriffen; sie sind im Durchschnitt auf zehn Bände veranschlagt. In derselben Zeit, die es brauchte, sie zu lesen, ließe sich bereits ein Gutteil der wichtigeren literarischen Werke selbst lesen. Die kurze Geschichte der deutschen Literatur ist so kurz, daß ihrem Leser Zeit bleibt, sich wieder der deutschen Literatur zuzuwenden, der dieses Buch sein Dasein verdankt. [und hier haben wir es endlich: das positive!]



dagegen : immer und immer wieder : auch wenn es schon unzählige male zitiert wurde : das einzig richtige wort Arno Schmidts :
 
A., B. und C. (schwören es zusammen) : Müde vom Durchwandern öder Letternwüsten, voll leerer Hirngeburten, in anmaaßendsten Wortnebeln ; überdrüssig ästhetischer Süßler wie grammatischer Wässerer ; entschloß ich mich : Alles, was je schrieb, in Liebe und Haß, als immerfort mitlebend zu behandeln ! ---
20. 9. 1958 - Darmstadt i. d. Barbarei - Arno Schmidt