3.4.3 schriftenreihe der fragmente In dem Brief an Charles Olson vom 28.10.1950 ist bereits die Rede von
einer »kleine(n) reihe zeitgenössischer dichtung«. In
seinem Brief vom November 1950 charakterisiert Gerhardt seine Reihe und
ihr Anliegen folgendermaßen:
Was die buchausgabe betrifft, so haben wir die reihe aus verschiedenen
Gründen nicht gestartet, fangen aber im spätherbst an, eine handgesetzte
und handgedruckte und illustrierte reihe zu veröffentlichen (von uns
selbst gesetzt und gedruckt). Der verlagsort wird Aix-en Provence sein,
wohin wir ziehen werden. Die ausgaben dieser reihe werden jeweils in drei
sprachen gedruckt werden. Deutsch - französisch - englisch. Vorgesehen
sind: die Pisan Cantos von Ezra Pound, gedichte von Charles Olson, Das
Grosse Testament des Confucius, Mittellateinische und Troubadourdichtung
etc. (...) Die Auflage wird 500 exemplare betragen, ich bin sicher, dass
wir sie ziemlich absetzen. 3)
3.4.3.1 Die erschienenen Bücher Band 1: Ezra Pound: Confucius: Die große Unterweisung oder Das Erwachsenenstudium, Karlsruhe 1953, 38 Seiten Auf den ersten Band der Schriftenreihe wurde bereits in dem Kapitel über Ezra Pound (3.2.1) näher eingegangen. Es ist das Flaggschiff der Reihe und wurde in einer Auflage von 2000 Exemplaren gedruckt. Daß Gerhardt großen Wert darauf gelegt zu haben schien, die Reihe mit diesem Band zu eröffnen, läßt sich u.a. an der Tatsache erkennen, daß die Bände 2, 3 und 5 zeitlich vor Band 1 erschienen. Das chinesische Ideogramm Sonne und Mond bestimmt die Gestaltung des Umschlags. Band 2: Wolfgang Weyrauch: Die Feuersbrunst. Prosa, Karlsruhe 1952, 36 Seiten Es mag ein wenig erstaunen, daß als zweiter Band der schriftenreihe der fragmente ein Text von Wolfgang Weyrauch erscheint. Noch kurz zuvor hatte Gerhardt in seiner rundschau der fragmente geschrieben: Ich rede nicht der nachahmung und der billigkeit das wort (Wolfgang
Weyrauch: An die Wand geschrieben, Rowohlt, Hamburg), schlechte verse bleiben
schlechte verse, aber es besteht die möglichkeit, mit einem gewissen
maass von verantwortungsgefühl gute dinge zu schaffen, oder wenigstens
ein bewusstsein von oder für gute dinge, gerade genug, um die wesentlichen
dinge in eigener oder fremder sprache aufnehmen und verwerten zu können. 4)
...ich sagte, steht in meinem Paß, er fragte, sind Sie vorbestraft,
ich sagte, ich verbitte mir, daß Sie mich beleidigen, er fragte,
warum wollten Sie Ihr Kind töten, ich antwortete, ich habe mein Kind
getötet, weil es sich nicht gehört, daß man ein Kind hat,
aber einen Mann dazu hat man nicht, er sagte, ach, übrigens, ich muß
Ihnen eine Mitteilung machen, ich fragte, was für eine, er sagte,
Ihr Versuch, Ihr Kind zu töten, ist gescheitert, ich fragte, was heißt
das, er sagte, das heißt, daß Ihr Kind lebt. 5)
Von den Polizisten:
Der Text endet wie er begonnen hat: Tap.
Band 3: Claire Goll: Versteinerte Tränen. Gedichte mit Zeichnungen von Antoni Clavé, Karlsruhe 1952, 31 Seiten Von den um 1950 noch lebenden Autoren der Vorkriegszeit (Expressionismus, Dada, etc.) war es vor allem neben Hans Arp und Max Ernst das Werk von Claire und Yvan Goll, das Gerhardt beeindruckt haben muß. Die z.T. etwas undurchsichtige Verlagsgeschichte dieses Werkes kann hier nicht erörtert werden. Im 'Verlag der Fragmente' waren mehrere Veröffentlichungen geplant. Der Band wurde mit drei Reproduktionen von Zeichnungen Antoni Clavés in eintausend Exemplaren gedruckt. Das Impressum enthält noch folgenden Hinweis: »Eine Luxusausgabe von .Versteinerte Tränen. wurde in 100 Exemplaren hergestellt. Sie ist mit vier signierten Originallithographien von Antoni Clavé versehen, numeriert und von der Dichterin signiert. Nr. 1-10 auf schwerem Japan, Nr. 11-40 auf handgeschöpftem Bütten, Nr. 41-100 auf Zerkall. Von Yvan Goll sollte in der gleichen Reihe als Band 12 der mythus vom durchbrochenen felsen mit zwei Radierungen von Yves Tanguy erscheinen, ebenfalls, wie Band 3, auch in einer Luxusausgabe. Die Dichtung erschien dann 1956 im Luchterhand Verlag in Darmstadt. Die erste der dem Taschenbuch beigegebenen Reproduktionen von Zeichnungen Antoni Clavés ist eine geringfügige Variation des Titelbildes von Heft 2 der fragmente, das im gleichen Jahr erschien. Die neunzehn Gedichte sind Teil des späteren Zyklus Die Antirose, dem poetischen Gespräch zwischen Yvan und Claire Goll, der erst 1965 in Paris erschien. Sie sind 1950 und 1951 entstanden und sprechen in starken Bildern vom Tod Yvans, der im Februar 1950 in Paris an Leukämie gestorben war; es sind Versteinerte Tränen. Die Welt scheint nicht nur gebrochen, sondern zerbrochen zu sein. Nichts ist mehr an seinem Ort, nichts hat mehr die Bedeutung, die es früher hatte. Der Tod hat den Zusammenhalt und den Zusammenhang der Welt zerstört: Nie wieder wird eine Rose Rose sein
Mit dir ist die Sonne begraben
Nie wieder wird eine Amsel Amsel sein
Ich hoffe nur, daß sich Yvan Goll nach viel mehr weiblichen Schatten
umsah, als denen, die über meinen Weg fielen, und sich somit die Verse
aus seinem Gedicht Orpheus bewahrheiten:
In allen Gedichten des vorliegenden Bandes spricht allerdings eine Unbedingtheit
und Absolutheit, die dieser 'Liberalität' entgegenzustehen scheint.
Das Gespräch mit dem Toten duldet in seiner Radikalität keine(n)
Dritte(n); der Leser fühlt sich als Eindringling in einen Tabu-Bereich.
Oft in der Hölle des Schlafs
Ach! ich beschwöre dich mein Toter
Band 4: Ezra Pound: wie lesen, Karlsruhe 1953, 48 Seiten Auf den vierten Band der Schriftenreihe wurde ebenfalls bereits in dem Kapitel über Ezra Pound (3.2.1) näher eingegangen. Gegenüber Band 1 wurde dieser 'nur' in einer Auflage von 1000 Exemplaren gedruckt. Die Umschlaggestaltung (verschiedenfarbige Balken) wirkt streng. Band 5: Rainer Maria Gerhardt: umkreisung. gedichte, Karlsruhe 1952, 38 Seiten Der Band wurde in 500 Exemplaren von Julius Engelberg in Karlsruhe gedruckt. Die Gestaltung (Umschlag, Typographie) wurde hier, wie auch bei allen anderen Heften, durch den Herausgeber verantwortet. Auf die zehn Gedichte des Bandes wurde in Kapitel 3.3.2 eingegangen. Band 19: Klaus Bremer: poesie, Karlsruhe 1954, 60 Seiten Der Band »wurde in vierhundert exemplaren bei l. c. wittich, druckerei und verlag, darmstadt, im mai 1954 hergestellt. umschlagzeichnung von klaus bremer. (...) von diesem buch erschien eine edition original mit grafik von klaus bremer versehen in hundert numerierten und signierten exemplaren im verlag der fragmente.uf hin, daß der Band wahrscheinlich von Bremer, der am dortigen Theater arbeitete, selbst produziert und dann von Gerhardt in seinem Verlag herausgegeben wurde. In einem kurzen biographischen Essay 13) beschreibt Bremer seinen »Weg
durch die konkrete Poesie« Der Abriß beginnt Mitte 1954. Dieser
Zeitpunkt scheint einen Wendepunkt in sei_ner dichterischen Produktion
zu bedeuten. Doch bereits die in der Sammlung poesie versammelten Gedichten
weisen viele Merk_male der neuen Schreibweise auf: das Prinzip der Re»hung,
das der graphischen Anordnung der Worte auf der Seite und auch das für
alle neue Poesie wesentliche Montageprinzip.
DU GABST MIR DEIN OHR
Und der Freund antwortet in seinen seegedichten. Es ist im Rahmen dieser Arbeit leider nicht möglich, auf die Vielfalt
der Methoden einzugehen, die Bremer in diesem Werk anwendet. In dem längsten
Gedicht des Bandes, dem Paternostergedicht 17) werden alle die neuen poetischen
Prinzipien angewendet, die 1954 möglich waren und die die Voraussetzungen
schufen für das, was später als 'Moderne Lyrik der Nachkriegszeit'
bezeichnet wurde. Es bleibt nur zu hoffen, daß diese Texte möglichst
bald wieder zugänglich gemacht werden, damit eine Beweisführung
für diese These in einem anderen Rahmen aufgenommen werden kann.
das lockend gereime lädt ein zum vollzuge
Auf die Gemeinschaftsarbeit Bremer - Gerhardt poeme collectif, die nicht in diesem Band enthalten ist, wurde bereits in Kapitel 3.3.2 eingegangen. 3.4.3.2 Nicht mehr realisierte Projekte Die Unbedingtheit des Anspruches, der übermäßige und (mit Sicherheit) zu weit gespannte Anspruch Gerhardts wird deutlich in einem Brief an Arno Schmidt vom 18.12.1950. Man spürt an dem sprunghaften Fortschreiten der Einfälle und Ideen etwas von den ungeheuren Zielen, die er sich steckte: Ich denke Ihr bändchen (etwas in der Art von Enthymesis, FJK) in der doppelten anzahl unserer normalen auflage (600) herauszubringen, das wären 1.200 exemplare, der einzelpreis beträgt 1.60 DM. Bei 10% honorar wären das rund 200 DM bei ganz verkaufter auflage. Meine zeitschrift, als sogenannte Little-review, zahlt nur in ausnahmefällen honorare, ein solcher ausnahmefall wären Sie, ich denke pro bogen 160 DM. Herrn Ledig schrieb ich bereits, dass ich Ihre "Enthymesis" ins englische übersetze und an meine amerikanischen freunde weitergebe. Ich hoffe, daß Emerson von The Golden Goose ev. ein einzelbändchen daraus macht, oder dass The Hudson Review sie abdruckt. Nach meinem engl. text wird Katue oder Hirai die übersetzung ins japanische machen (für SHIGAKU oder VOU). Beide Zeitschriften erscheinen in Tokio. Ausserdem bemühe ich mich um den abdruck bei meinen arbeitskollegen NINE, london, REUNION, Buenos Aires (in spanisch), IL MOMENTO, Rom (in ital.). Wenn wir einen teil unter dach und fach haben, bin ich froh. Ist Ihnen dies recht? Die arbeiten, die sie ev. für mich machen, werden den gleichen weg reihum machen (in Amerika dann in re/SOURCE, meinem geschwisterunternehmen). Mit den tantiemen muss man dann balancieren, denn die einen bezahlen honorare, die anderen bezahlen wieder keine. Das ist alles. Geschäfte geschäfte. 19) Ein weltumspannendes Netzwerk der modernen Literatur - nicht mehr und nicht weniger war es, was hier in Gerhardts Kopf spukte. Denn gespenstisch muß es anmuten, wenn ein Dreiundzwanzigjähriger versucht, das, was ihm wichtig erscheint, gleichzeitig in fast allen Erdteilen zu verwirklichen. Doch wäre ohne diese Unbedingheit sicherlich nicht das wenige an Vermittlungsarbeit, das er geschafft hat, durchzusetzen gewesen. Ein nicht im Verlagsprospekt von 1954 aufgeführtes Projekt der
schriftenreihe der fragmente war Arno Schmidts Erzählung alexander
oder was ist wahrheit. In dem bereits zitierten Brief vom 8.7.1951 schreibt
er: »Ihre Freundlichkeit, mir eine erzählung zu überlassen
hat mich sehr beglückt.«) Im ebenfalls nicht mehr realisierten
'Deutschland-Sonderheft' der fragmente will er einen Vorabdruck aus der
Erzählung bringen. Vier Tage später schreibt er: »Ihr alexander
könnte im laufe des sommers (juli) herauskommen, würde also ins
erste herbstgeschäft kommen.« Woran das Projekt gescheitert
ist, läßt sich heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Ob es
an Honorarforderungen Schmidts scheiterte oder an der finanziellen Misere
des 'Verlags der Fragmente' bleibt der Spekulation überlassen.
1) Gerhardt an Olson, a.a.O., Seite 55.
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