3.4.3  schriftenreihe der fragmente

In dem Brief an Charles Olson vom 28.10.1950 ist bereits die Rede von einer »kleine(n) reihe zeitgenössischer dichtung«. In seinem Brief vom November 1950 charakterisiert Gerhardt seine Reihe und ihr Anliegen folgendermaßen:
Well, such we bring closer & closer - o Pasternak, Majakovski, Cesaire, Guillen, we'll bring too - no political line other than the conspiracy of the intellectuals - well-meant - to spread 'propaganda' in order to make something better, to bring the few of us together. That's enough. Well, one shouldn't try too much by himself; he flops, at least where politics comes into it - that single, gross obscenity of the masters of this earth: right where they sit. We ourselves can offer resistance, by saying, no, to the catchword, which they try to put over on us. We can say: NO. And we'll do. So much for the fine sentiments. 2)
Auch hier wird eine der Grundhaltungen Gerhardts wieder deutlich, daß Literatur, wenn sie ihre Ansprüche auf höchste Qualität durchsetzt, politisch wirkt. Sowohl die beiden Hefte der fragmente wie auch die schriftenreihe wirkten politisch, weil sie sich einer vordergründigen Politisierung verweigerten und ausschließlich auf Qualität setzten.
Am 8.7.1951 schreibt er an Arno Schmidt, den er um eine Erzählung für seine Buchreihe gebeten hatte, und erklärt ihm die äußeren Bedingungen seines Unternehmens:

Was die buchausgabe betrifft, so haben wir die reihe aus verschiedenen Gründen nicht gestartet, fangen aber im spätherbst an, eine handgesetzte und handgedruckte und illustrierte reihe zu veröffentlichen (von uns selbst gesetzt und gedruckt). Der verlagsort wird Aix-en Provence sein, wohin wir ziehen werden. Die ausgaben dieser reihe werden jeweils in drei sprachen gedruckt werden. Deutsch - französisch - englisch. Vorgesehen sind: die Pisan Cantos von Ezra Pound, gedichte von Charles Olson, Das Grosse Testament des Confucius, Mittellateinische und Troubadourdichtung etc. (...) Die Auflage wird 500 exemplare betragen, ich bin sicher, dass wir sie ziemlich absetzen. 3)
Doch erst im folgenden Jahr erschienen die ersten Bände dieser Reihe. Und, man muß fast sagen: wie gewohnt, in anderer Aufmachung und unter anderen Bedingungen als hier beschrieben. Der Verlagsort war noch immer Freiburg bzw. Karlsruhe, die Dreisprachigkeit wurde auch aufgegeben. Der Umfang lag zwischen 32 und 64 Seiten, der Preis für die Normalausgabe betrug 1.90 DM, für die Leinenausgabe 3.40 DM, das Format war 11,5 x 17 cm; der Umschlag war mehrfarbig. Die Auflagenhöhe war bei den einzelnen Bänden unterschiedlich.

3.4.3.1  Die erschienenen Bücher

Band 1:  Ezra Pound: Confucius: Die große Unterweisung oder Das Erwachsenenstudium, Karlsruhe 1953, 38 Seiten

Auf den ersten Band der Schriftenreihe wurde bereits in dem Kapitel über Ezra Pound (3.2.1) näher eingegangen. Es ist das Flaggschiff der Reihe und wurde in einer Auflage von 2000 Exemplaren gedruckt. Daß Gerhardt großen Wert darauf gelegt zu haben schien, die Reihe mit diesem Band zu eröffnen, läßt sich u.a. an der Tatsache erkennen, daß die Bände 2, 3 und 5 zeitlich vor Band 1 erschienen. Das chinesische Ideogramm Sonne und Mond bestimmt die Gestaltung des Umschlags.

Band 2:  Wolfgang Weyrauch: Die Feuersbrunst. Prosa, Karlsruhe 1952, 36 Seiten

Es mag ein wenig erstaunen, daß als zweiter Band der schriftenreihe der  fragmente ein Text von Wolfgang Weyrauch erscheint. Noch kurz zuvor hatte Gerhardt in seiner rundschau der fragmente geschrieben:

Ich rede nicht der nachahmung und der billigkeit das wort (Wolfgang Weyrauch: An die Wand geschrieben, Rowohlt, Hamburg), schlechte verse bleiben schlechte verse, aber es besteht die möglichkeit, mit einem gewissen maass von verantwortungsgefühl gute dinge zu schaffen, oder wenigstens ein bewusstsein von oder für gute dinge, gerade genug, um die wesentlichen dinge in eigener oder fremder sprache aufnehmen und verwerten zu können. 4)
Aber auch hier, wie schon im Falle Benn, wird der Prosaschriftsteller dem Lyriker vorgezogen.
Obwohl es in den letzten Jahren Nachdrucke von Gedichten und Prosatexten Weyrauchs gegeben hat, ist dieser hochkonzentrierte und vom ersten bis zum letzten Wort nach einem strengen Muster durchkomponierte Dialog nie wieder neu aufgelegt worden.
Stellt man ihn anderen Texten an die Seite, die ebenfalls 1952 erschienen, so scheint er, zumindest in seinen formalen Qualitäten, seiner Zeit weit voraus. Dies scheint auch der Grund gewesen zu sein, warum ihn Gerhardt in seine schriftenreihe aufgenommen hat. Vielleicht ist es aber auch das in diesem Text auf jeder Seite vorhandene 'Verantwortungsgefühl' der Sprache, der Form und dem Inhalt gegenüber, das Gerhardt, wie oben zitiert, von der neuen Literatur fordert, das zu einer Veröffentlichung geführt hat.
Modern erscheint der Text schon aus dem einen Grund, daß die Frage der Gattung nicht eindeutig zu klären ist. Elemente der Epik, Lyrik und Dramatik erscheinen: eigentlich ein Exempel für ein Lehrbuch der Gattungen. Strukturiert wird der Text durch Rede und Gegenrede: ein Dialog auf den ersten Blick; auf den zweiten Blick aber wird aus diesem Dialog sehr häufig ein Monolog, da beide Sprecher (ein Mann - eine Frau) zeitweilig unfähig sind, aufeinander zuzugehen.
Innerhalb der Rede der Frau auf den Seiten 16 bis 18 gibt es ein Musterbeispiel der Befragung (ein in der deutschen Nachkriegsliteratur weitverbreitetes formales Mittel) durch einen Untersuchungsrichter:

...ich sagte, steht in meinem Paß, er fragte, sind Sie vorbestraft, ich sagte, ich verbitte mir, daß Sie mich beleidigen, er fragte, warum wollten Sie Ihr Kind töten, ich antwortete, ich habe mein Kind getötet, weil es sich nicht gehört, daß man ein Kind hat, aber einen Mann dazu hat man nicht, er sagte, ach, übrigens, ich muß Ihnen eine Mitteilung machen, ich fragte, was für eine, er sagte, Ihr Versuch, Ihr Kind zu töten, ist gescheitert, ich fragte, was heißt das, er sagte, das heißt, daß Ihr Kind lebt. 5)
Das Tempo dieser Befragung steigert sich rasant von der ersten Frage bis zur letzten Antwort.
Die Fabel des Stücks ist absurd und apokalyptisch zugleich. - An einem 21. Mai brach um 2.44 Uhr ein Vulkan vor der Stadt aus: Nähere Angaben fehlen. Alle Einwohner werden getötet. Zwei Insassen einer Heilanstalt überleben: ein Mann (Andreas) und eine Frau (Fanny). Sie erzählen, oder besser gesagt, sie erfinden füreinander eine Geschichte, in der kein Faktum klarbleiben darf. Ihre Zellen liegen übereinander; sie suggerieren sich, daß sie übereinanderliegen: eine letztlich unbefriedigende Vorstellung für beide. Die Frau erzählt dem Mann die Geschichte ihres Kindes, das sie umgebracht hat oder auch nicht. Es bleibt alles unklar. Gegen Ende des Dialogs tauchen riesige grüne Pferde auf, die die Anstalt vernichten; eine eindeutige Anleihe aus den apokalyptischen Schriften der Bibel.
Damit der Mann dreizehn Fragen an die Wand schreiben kann, versucht die Frau, die 'apokalyptischen Pferde' durch Lieder aufzuhalten. In jedem Lied spricht ein Beruf für sich und sein Verhalten im Angesicht des Vulkanausbruches und der darauf folgenden Feuersbrunst: Ahnungslosigkeit und Dummheit erscheinen als die Kräfte, die die Feuersbrunst und damit das Ende nicht verhindert und also herbeigeführt haben: eine Parabel über das Verhalten der Deutschen im 'Dritten Reich'.
Ein Beispiel:

Von den Polizisten:
   Wir sorgen dafür,
   daß die Unordnungen
   nicht die Ordnung stören,
   denn sonst käme heraus,
   daß die Ordnung eine Unordnung ist.
Zwölfte: wißt Ihr, daß die Erde untergegangen ist?
6)
Die Leugnung führt das Chaos herbei, und mit ihm kommt das Ende.

Der Text endet wie er begonnen hat:

Tap.
Tap.
Taap taap-tap taap.
Taap taap-tap taap.
Ich liebe dich.
Ich liebe dich.
7)
Der Band hatte eine Auflage von eintausend Exemplaren.

Band 3:  Claire Goll: Versteinerte Tränen. Gedichte mit Zeichnungen von Antoni Clavé, Karlsruhe 1952, 31 Seiten

Von den um 1950 noch lebenden Autoren der Vorkriegszeit (Expressionismus, Dada, etc.) war es vor allem neben Hans Arp und Max Ernst das Werk von Claire und Yvan Goll, das Gerhardt beeindruckt haben muß. Die z.T. etwas undurchsichtige Verlagsgeschichte dieses Werkes kann hier nicht erörtert werden. Im 'Verlag der Fragmente' waren mehrere Veröffentlichungen geplant.

Der Band wurde mit drei Reproduktionen von Zeichnungen Antoni Clavés in eintausend Exemplaren gedruckt. Das Impressum enthält noch folgenden Hinweis: »Eine Luxusausgabe von .Versteinerte Tränen. wurde in 100 Exemplaren hergestellt. Sie ist mit vier signierten Originallithographien von Antoni Clavé versehen, numeriert und von der Dichterin signiert. Nr. 1-10 auf schwerem Japan, Nr. 11-40 auf handgeschöpftem Bütten, Nr. 41-100 auf Zerkall.

Von Yvan Goll sollte in der gleichen Reihe als Band 12 der mythus vom durchbrochenen felsen mit zwei Radierungen von Yves Tanguy erscheinen, ebenfalls, wie Band 3, auch in einer Luxusausgabe. Die Dichtung erschien dann 1956 im Luchterhand Verlag in Darmstadt.

Die erste der dem Taschenbuch beigegebenen Reproduktionen von Zeichnungen Antoni Clavés ist eine geringfügige Variation des Titelbildes von Heft 2 der fragmente, das im gleichen Jahr erschien.

Die neunzehn Gedichte sind Teil des späteren Zyklus Die Antirose, dem poetischen Gespräch zwischen Yvan  und Claire Goll, der erst 1965 in Paris erschien. Sie sind 1950 und 1951 entstanden und sprechen in starken Bildern vom Tod Yvans, der im Februar 1950  in Paris an Leukämie gestorben war; es sind Versteinerte Tränen.

Die Welt scheint nicht nur gebrochen, sondern zerbrochen zu sein. Nichts ist mehr an seinem Ort, nichts hat mehr die Bedeutung, die es früher hatte. Der Tod hat den Zusammenhalt und den Zusammenhang der Welt zerstört:

Nie wieder wird eine Rose Rose sein
Mürbe Blumenblätter statt ihrer:
Welke Augenlider von Toten

Mit dir ist die Sonne begraben
Der Mond - ertrunken im Teich der Tränen -
Geht nicht mehr auf solange ich lebe

Nie wieder wird eine Amsel Amsel sein
Die sanften Schritte der Abgeschiedenen
Dämpfen für immer ihr Lied                                            (Nie wieder)
8)
Für sie, das »Gespenst einer halb beerdigten Frau«), ist sogar der Mythos auf den Kopf gestellt:
»Orpheus! Orpheus! Orpheus!
Eurydike in der Unterwelt ruft dich!« Etwas seltsam mag in diesem Zusammenhang allerdings anmuten, wie Claire Goll im Nachwort zu dem gemeinsamen Band Die Antirose, der auch dieses Gedicht enthält, versucht, Yvans zahlreiche 'Frauenbekanntschaften' zu rechtfertigen:

Ich hoffe nur, daß sich Yvan Goll nach viel mehr weiblichen Schatten umsah, als denen, die über meinen Weg fielen, und sich somit die Verse aus seinem Gedicht Orpheus bewahrheiten:
   Seit ich, Eurydike, dich verlor
   Weil ich mich einmal umsah
   Muß ich mich umsehn
   Nach allen Frauen der Erde.
11)

In allen Gedichten des vorliegenden Bandes spricht allerdings eine Unbedingtheit und Absolutheit, die dieser 'Liberalität' entgegenzustehen scheint. Das Gespräch mit dem Toten duldet in seiner Radikalität keine(n) Dritte(n); der Leser fühlt sich als Eindringling in einen Tabu-Bereich.
 

Oft in der Hölle des Schlafs
Kommst du zurück zu mir ohne Gesicht

Ach! ich beschwöre dich mein Toter
Hör auf hör auf in mir zu sterben!
12)

Band 4:  Ezra Pound: wie lesen, Karlsruhe 1953, 48 Seiten

Auf den vierten Band der Schriftenreihe wurde ebenfalls bereits in dem Kapitel über Ezra Pound (3.2.1) näher eingegangen. Gegenüber Band 1 wurde dieser 'nur' in einer Auflage von 1000 Exemplaren gedruckt. Die Umschlaggestaltung (verschiedenfarbige Balken) wirkt streng.

Band 5:  Rainer Maria Gerhardt: umkreisung. gedichte, Karlsruhe 1952, 38 Seiten

Der Band wurde in 500 Exemplaren von Julius Engelberg in Karlsruhe gedruckt. Die Gestaltung (Umschlag, Typographie) wurde hier, wie auch bei allen anderen Heften, durch den Herausgeber verantwortet. Auf die zehn Gedichte des Bandes wurde in Kapitel 3.3.2 eingegangen.

Band 19:  Klaus Bremer: poesie, Karlsruhe 1954, 60 Seiten

Der Band »wurde in vierhundert exemplaren bei l. c. wittich, druckerei und verlag, darmstadt, im mai 1954 hergestellt. umschlagzeichnung von klaus bremer. (...) von diesem buch erschien eine edition original mit grafik von klaus bremer versehen in hundert numerierten und signierten exemplaren im verlag der fragmente.uf hin, daß der Band wahrscheinlich von Bremer, der am dortigen Theater arbeitete, selbst produziert und dann von Gerhardt in seinem Verlag herausgegeben wurde.

In einem kurzen biographischen Essay 13) beschreibt Bremer seinen »Weg durch die konkrete Poesie« Der Abriß beginnt Mitte 1954. Dieser Zeitpunkt scheint einen Wendepunkt in sei_ner dichterischen Produktion zu bedeuten. Doch bereits die in der Sammlung poesie versammelten Gedichten weisen viele Merk_male der neuen Schreibweise auf: das Prinzip der Re»hung, das der graphischen Anordnung der Worte auf der Seite und auch das für alle neue Poesie wesentliche Montageprinzip.
In dem Rainer M. Gerhardt gewidmeten 'Seegedicht' 14) 'schwemmt' das Wort »wellenFehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.
wellen der mauer der sonn ziegel an ziegel longines
           ford chocolat tobler cigarettes laurens pneu
           firestone suisse siegel der siegel der
wellen der glyzin warme süß die pflanze entrollt ihr
           meer der
15)
Eingerahmt werden die 'Anschwemmungen' durch eine Botschaft an den Freund:

DU GABST MIR DEIN OHR
DU BIST SCHÖN UND HÖRST NICHT
DU NAHMST MEINE KLEIDER
(...)
ICH BIN NACKT UND HÖRE
16)

Und der Freund antwortet in seinen seegedichten.

Es ist im Rahmen dieser Arbeit leider nicht möglich, auf die Vielfalt der Methoden einzugehen, die Bremer in diesem Werk anwendet. In dem längsten Gedicht des Bandes, dem Paternostergedicht 17) werden alle die neuen poetischen Prinzipien angewendet, die 1954 möglich waren und die die Voraussetzungen schufen für das, was später als 'Moderne Lyrik der Nachkriegszeit' bezeichnet wurde. Es bleibt nur zu hoffen, daß diese Texte möglichst bald wieder zugänglich gemacht werden, damit eine Beweisführung für diese These in einem anderen Rahmen aufgenommen werden kann.
 

das lockend gereime lädt ein zum vollzuge
das deutet dem leser auf die brust
18)

Auf die Gemeinschaftsarbeit Bremer - Gerhardt poeme collectif, die nicht in diesem Band enthalten ist, wurde bereits in Kapitel 3.3.2 eingegangen.

3.4.3.2  Nicht mehr realisierte Projekte

Die Unbedingtheit des Anspruches, der übermäßige und (mit Sicherheit) zu weit gespannte Anspruch Gerhardts wird deutlich in einem Brief an Arno Schmidt vom 18.12.1950. Man spürt an dem sprunghaften Fortschreiten der Einfälle und Ideen etwas von den ungeheuren Zielen, die er sich steckte:

Ich denke Ihr bändchen (etwas in der Art von Enthymesis, FJK) in der doppelten anzahl unserer normalen auflage (600) herauszubringen, das wären 1.200 exemplare, der einzelpreis beträgt 1.60 DM. Bei 10% honorar wären das rund 200 DM bei ganz verkaufter auflage. Meine zeitschrift, als sogenannte Little-review, zahlt nur in ausnahmefällen honorare, ein solcher ausnahmefall wären Sie, ich denke pro bogen 160 DM. Herrn Ledig schrieb ich bereits, dass ich Ihre "Enthymesis" ins englische übersetze und an meine amerikanischen freunde weitergebe. Ich hoffe, daß Emerson von The Golden Goose ev. ein einzelbändchen daraus macht, oder dass The Hudson Review sie abdruckt. Nach meinem engl. text wird Katue oder Hirai die übersetzung ins japanische machen (für SHIGAKU oder VOU). Beide Zeitschriften erscheinen in Tokio. Ausserdem bemühe ich mich um den abdruck bei meinen arbeitskollegen NINE, london, REUNION, Buenos Aires (in spanisch), IL MOMENTO, Rom (in ital.). Wenn wir einen teil unter dach und fach haben, bin ich froh. Ist Ihnen dies recht? Die arbeiten, die sie ev. für mich machen, werden den gleichen weg reihum machen (in Amerika dann in re/SOURCE, meinem geschwisterunternehmen). Mit den tantiemen muss man dann balancieren, denn die einen bezahlen honorare, die anderen bezahlen wieder keine. Das ist alles. Geschäfte geschäfte. 19)

Ein weltumspannendes Netzwerk der modernen Literatur - nicht mehr und nicht weniger war es, was hier in Gerhardts Kopf spukte. Denn gespenstisch muß es anmuten, wenn ein Dreiundzwanzigjähriger versucht, das, was ihm wichtig erscheint, gleichzeitig in fast allen Erdteilen zu verwirklichen. Doch wäre ohne diese Unbedingheit sicherlich nicht das wenige an Vermittlungsarbeit, das er geschafft hat, durchzusetzen gewesen.

Ein nicht im Verlagsprospekt von 1954 aufgeführtes Projekt der schriftenreihe der fragmente war Arno Schmidts Erzählung alexander oder was ist wahrheit. In dem bereits zitierten Brief vom 8.7.1951 schreibt er: »Ihre Freundlichkeit, mir eine erzählung zu überlassen hat mich sehr beglückt.«) Im ebenfalls nicht mehr realisierten 'Deutschland-Sonderheft' der fragmente will er einen Vorabdruck aus der Erzählung bringen. Vier Tage später schreibt er: »Ihr alexander könnte im laufe des sommers (juli) herauskommen, würde also ins erste herbstgeschäft kommen.« Woran das Projekt gescheitert ist, läßt sich heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Ob es an Honorarforderungen Schmidts scheiterte oder an der finanziellen Misere des 'Verlags der Fragmente' bleibt der Spekulation überlassen.
Der literarische Rahmen der nicht verwirklichten Projekte der schriftenreihe ist weitgespannt. Er geht von negro spirituals und songs über eine Anthologie fünf neue deutsche dichter (die Namen der Autoren lassen sich z.Zt. nicht bestimmen) und der gedanken über romane des Marquis de Sade zu der Schrift die situation des surrealismus zwischen den kriegen von André Breton. Auf diese Fülle an Neuem und Verstörendem war die literarische Landschaft des Jahres 1954 nicht vorbereitet, die Ziele waren zu weit gesteckt, das Projekt fragmente mußte scheitern.


Anmerkungen:

1) Gerhardt an Olson, a.a.O., Seite 55.
2) In: Olson/Creeley, Correspondence, Vol. 4, a.a.O., Seite 33.
3) Rainer M. Gerhardt an Arno Schmidt, 8.7.1951, Typoskript, Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld.
4) Gerhardt, Rundschau, a.a.O., Seite 15.
5) Wolfgang Weyrauch: Die Feuersbrunst. Prosa, Karlsruhe 1952 (= schriftenreihe der fragmente, Band 2), Seite 17.
6) A.a.O., Seite 32-33.
7) A.a.O., Seite 36.
8) Claire Goll: Versteinerte Tränen. Gedichte, Karlsruhe 1952 (= schriftenreihe der fragmente, Band 3), Seite 8.
9) A.a.O., Seite 23.
10) Ebda.
11) Yvan Goll / Claire Goll: Traumkraut - Die Antirose. Gedichte, Frankfurt/M 1990, Seite 235.
12) Claire Goll: Versteinerte Tränen, a.a.O., Seite 9.
13) Claus Bremer: Farbe bekennen. Mein Weg durch die konkrete Poesie, Zürich 1983.
14) Klaus Bremer: poesie, Karlsruhe 1954 (= schriftenreihe der fragmente, Band 19), Seite 35-36. - Im ungedruckten Nachlaß Gerhardts befindet sich ein Gedichtzyklus seegedichte, aus dem drei Gedichte in Heft 3 des Jahrgangs 1956 der Münchner Zeitschrift Akzente erschienen. Es schien sich ein neuer poetischer Dialog anzubahnen, vergleichbar dem aus den Jahren 1950-52 zwischen Gerhardt und Olson. - Im Herbst 1992 hat Michael Braun in der Stuttgarter Literaturzeitschrift Flugasche die Seegedichte I-III veröffentlicht.
15) A.a.O., Seite 35.
16) A.a.O., Seite 35 und 36.
17) A.a.O., Seite 37-58.
18) A.a.O., Seite 37.
19) Rainer M. Gerhardt an Arno Schmidt (18.12.1950), Typoskript, Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld.
20) Rainer M. Gerhardt an Arno Schmidt (8.7.1951), a.a.O.
21) Rainer M. Gerhardt an Arno Schmidt (12.7.1951), a.a.O.