3.4.2  fragmente. internationale revue für moderne dichtung

Diese kurzlebige Zeitschrift versuchte, auf die internationale Dichtung außerhalb des deutschen Literaturbetriebs hinzuweisen. Durch Kontaktaufnahme der Mitarbeiter zu deutschen und ausländischen Autoren wurde gegenseitige Anregung angestrebt. Die abgedruckten Texte und Gedichte sind weitgehend formalistisch-experimenteller Art, gelegentlich in verschiedenen Sprachen zugleich. Der ersten Nummer ist eine Studie über Ezra Pounds 'Mittelalterlichkeit' vorangesetzt, in der zweiten Nummer wird sein Canto LXVVVIV abgedruckt. Viele der ausländischen Autoren (A.Artaud, H.Michaux, St.John Perse, R.Alberti, LuChi, A.Cesaire, W.C.Williams u.a.) erscheinen in Übersetzungen des Herausgebers. 1)

Wenn der Leser ein 'Nachschlagewerk' über literarische Zeitschriften im Nachkriegsdeutschland in die Hand nimmt, möchte er möglichst korrekt informiert werden. In dem hier zitierten Abschnitt stimmt hingegen so gut wie nichts. Abgesehen davon, daß eine solide Schulbildung es ermöglichen sollte, die Zahl 84 auch in lateinischen Ziffern schreiben zu können, gibt es keine »Studie über Ezra Pounds 'Mittelalterlichkeit'«.
Die Nichtbeachtung des ersten Heftes war überwältigend. Es erschien eine einzige Rezension aus der Feder von Ernst Robert Curtius, die nicht nur die Zeitschrift vorstellte, sondern entschieden weiterging. Noch nie und nie wieder später forderte er die Leser seines in der Zürcher Zeitung Die Tat erscheinenden Büchertagebuches unverblümter und fordernder zur Mithilfe auf:

"Fragmente" - So nennt sich die "neue Revue für moderne Dichtung", deren erstes Heft im Juni in Freiburg i.Br. erschienen ist. Ein Jahresabonnement kostet 15 Schweizer Franken. In Zürich, Schaffhausen, Winterthur, Basel gibt es Menschen, die im Jahr das Hundertfache für moderne Malerei und Graphik ausgeben. Ich hoffe, einige davon nehmen ein Jahresabonnement oder noch besser ein Förderabonnement (50 sFR.). Denn moderne Dichtung, wie sie hier gemeint ist, braucht Mäzene. Je demokratischer ein Gemeinwesen, um so dringlicher ist eine Neubelebung des Mäzenats. Das ist eine Feststellung soziologischer Art, die leicht evident zu machen wäre. Aus Basel sind einige Fälle literarischen Mäzenatentums in letzter Zeit beglaubigt. Ich zweifle nicht, daß dies auch für die andern genannte Städte der Fall ist oder sein wird.
Ich kenne den Herausgeber der Fragmente, Rainer M. Gerhardt, und seine Mitarbeiter nicht. Aber ich möchte sein Unternehmen lebhaft unterstützen. Denn es ist ein notwendiges Unternehmen.
2)

Vor den beiden Heften der fragmente. internationale revue für moderne dichtung (1951/52) und vor den sechs Heften der fragmente. blätter für freunde (1949-1951) gab es bereits einen Austausch von Manuskripten eigener und übersetzter Texte, der aber ab einem bestimmten Punkt nicht mehr zu praktizieren war. 3)
In einem Brief vom November 1950 formuliert Gerhardt das Ziel der 'Gruppe der Fragmente' für seinen amerikanischen Freund Robert Creeley:

Then comes note of ourselves: the fragmente-gruppe. We tried to push things from the first; Klaus Bremer, who picks up from the french, myself, from the english / american, & my colleague Renate Zacharias, from the russian-orthodox-church poetry. We have (with the exeption of Z / (whose husband is an isolate german-orthodox priest)) put the problem of form square in the center of our concern. In germany, this ist what amts to a criminal act. Well, we don't give a damn if we're taken note of openly - they call us the formalists, etc. Klaus Bremer works in a fixed, evenly-flowing rhythm with small variations, tries to come to new things, i.e., work over the line, rhythm-breaks / broad. For myself, I try the element of rhythm (which Pound makes for me) with the melodic (perse), i.e., to bind them, & by way of variation, continual ride-over from form to form, try to make the stuff dense & strong. I experiment, i.e., add such as well. 4)
Es läßt sich nicht mehr rekonstruieren, welche Manuskripte vor der ersten Folge kursierten. Aber es kann mit Sicherheit angenommen werden, daß die Linie (Pound, Eliot, Miller, Perse, Gerhardt, Bremer, Olson, Creeley, etc.), die in den Folgen 1 und 2 zu erkennen ist, hier grundgelegt wurde.

Der erste Text des ersten Heftes der fragmente. blätter für freunde ist ein Prosastück von Klaus Bremer, die letzte Veröffentlichung des 'Verlags der Fragmente' ist ein Gedichtband von Bremer. Es gibt eine Kontinuität und ein Beharren auf klaren Zielen.
Die beiden übersetzten Texte in Heft 1 (Pound: Pour l'élection de son sépulchre, Eliot: Schwierigkeiten eines Staatsmannes) zeigen bereits deutlich den Schwerpunkt der Vermittlungsarbeit auf; er wird, trotz vielfältiger anderer Bemühungen, im anglo-amerikanischen Bereich liegen. Es sind in diesem Sinne programmatische Texte. Ergänzt wird dieses Programm durch Texte von Gerhardt und Bremer.

Das zweite Heft erweitert das Spektrum durch Gedichte von Dora Tatjana Soellner und Renate Zacharias. Es sind dies Gedichte, die einerseits (Soellner) die 'spielerisch'-experimentelle und andererseits (Zacharias) die mehr traditionsgebundene Richtung der fragmente vertreten. In seinem Gedicht Lasst uns betrachten, wo die grossen maenner sind versucht der amerikanische Lyriker Delmore Schwartz (1913-1966) die großen Vertreter der literarischen Moderne von Joyce über Rilke bis Thomas Mann dem Leser ins Gedächtnis zurückzurufen. Lektüre wird zur Lebenshilfe: »Wer wird das Kind quälen da es doch lesen kann« Ezra Pound ist mit seinem Canto XIII vertreten.
Die Hefte 3 und 4 enthalten Texte von jeweils nur einem Autor / einer Autorin. Nr. 3 enthält eine frühe längere Fassung von Gerhardts der tode des hamlet (vgl. 3.3.1) und Nr. 5 Lyrik und Prosa von Renate Zacharias. 6)

Nr. 4 ist das umfangreichste und interessanteste Heft dieser Reihe. Es ist eine durchkomponierte Collage. Eingerahmt von Teilen aus Saint-John Perse' Gedicht Regen finden wir je ein Prosastück von Renate Zacharias und Klaus Bremer.
Herzstück sind Auszüge aus dem ersten Kapitel von Henry Millers Der Wendekreis des Krebses. Von ihm werden in dem 1954 erschienenen und bereits mehrfach erwähntem Verlagsprospekt weitere Texte angekündigt (vgl. Abb. nach Kapitel 3.5). Daß diese Veröffentlichung ein Wagnis war, bestätigt Renate Gerhardt in einem Interview.

Schon zur Zeit der "Fragmente" hatte man eine Teilübersetzung aus Henry Millers "Tagebuch eines Diebes" an Ledig-Rowohlt geschickt, weil es eines Verlages bedurfte, der auch etwas "juristisch durchfechten" konnte. Und prompt stand Ledig mit Miller (auch mit Genet) vor Gericht als Verbreiter von obszönen Schriften! 7)
Dies ist die eine Seite der Medaille 'Henry Miller & die Fragmente'. Auf eine andere Seite machte Helmut Salzinger aufmerksam:

Anfang der sechziger Jahre gründete sie [Renate Gerhardt, FJK] den gerhardt verlag, berlin, dessen Produktion sehr bald von der Kritik in den höchsten Tönen gelobt wurde, und zwar mit Geld, das ihr von Henry Miller gestellt worden war. Über die Beziehung zwischen Miller und Renate Gerhardt ist in Literatenkreisen viel geklatscht worden. Was dabei gewöhnlich unerwähnt blieb, ist die Tatsache, daß Rainer Gerhardt Millers deutscher Entdecker war. (...) So ließe sich Millers finanzielle Zuwendung an Renate auch als Dank an Rainer verstehen, als Beitrag zur Fortsetzung von dessen ehrgeizigem literarischen Programm durch Renate, damit die unter dem Namen 'Fragmente' begonnene Arbeit unter dem Namen "gerhardt" vollendet werden könne. 8)

Heft Nr. 6 stellt zwei neue Autoren vor: Der Gruppe 47 - Autor Walter Hilsbecher ist vertreten mit drei Aphorismen (Beispiel: »Wenn das rad des Seins sich schneller zu drehen beginnt, zieht uns die fliehkraft ab von der nabe.«. Ein Beispiel geistlich-religiöser Dichtung, die ihre Herkunft von der Naturlyrik Walt Whitmans nicht leugnet, liefert der amerikanische Dichter Theodore Roethke (1908-1963) mit seinem Gedicht die gestalt des feuers. Höhepunkt des Heftes ist die erste Übertragung des Usura-Cantos XLV von Ezra Pound (vgl. 3.4.1). Trotz der auf der letzten Seite versprochenen Weiterführung wird die erste Folge der fragmente mit diesem Heft beeendet.
In seinem Brief vom 20. 9. 1950 kündigt Gerhardt Gottfried Benn das Ende der ersten Folge der fragmente an und eröffnet ihm gleichzeitig den Plan zu einer neuen Zeitschrift:

...wollen wir mit dem 1.1.1951 die "fragmente" als monatsschrift (48 seiten) erscheinen lasse. Es wäre die einzige zeitschrift der moderne in deutscher sprache. Aimee Cesaire [sic!], Henry Miller, Ezra Pound, Charles Olson, Morse, Montanelli, Perse, W. C. Williams, Katue, eine grosse anzahl anderer fast unbekannter junger dichter werden mitveröffentlichen. 10)
Der Zeitplan konnte nicht eingehalten werden, das erste Heft erschien erst im Juni 1951; der Umfang war von 48 Seiten auf 32 Seiten geschrumpft, nicht gerechnet die 16seitige Beilage rundschau der fragmente.
Ende Oktober, Anfang November bittet er Robert Creeley, den er durch Ezra Pound kennengelernt hatte, sein amerikanischer Mitherausgeber zu werden. 11) Creeley stimmt zu 12) und Gerhardt schreibt am 28.10.1950 an Charles Olson:

Sehr geehrter herr Olson,
herr Robert Creeley war so freundlich uns Ihre adresse zu geben. Da wir grosse stücke von seinem urteil halten und er grosse stücke von Ihnen hält, hoffen wir, dass zwischen unserem unternehmen, einem verlag einer gruppe junger dichter, eine zusammenarbeit möglich sein wird. Wir geben ab 1.1.1951 eine zeitschrift "fragmente" heraus, ausserdem eine kleine reihe zeitgenössischer dichtung (einzelbändchen). Schicken Sie uns bitte doch gedichte von Ihnen, eine ganze menge, wir würden sie gerne ins deutsche übertragen und in unserer zeitschrift publizieren, ev. auch in einem einzelbändchen. Wir hoffen, dass wir verständnis für Ihre arbeit besitzen. Herr Creeley schreibt uns, dass es auch interessant wäre, aus Ihren briefen auszüge zu bringen. Es würde uns sehr freuen, wenn auch solche texte zu uns finden würden. Wie gesagt, wenn wir übereinstimmen, dann drucken wir gleich. Übereinstimmung vorbehalten! Es wäre sehr nett, wenn Sie mir bald, am besten postwendend schreiben und senden könnten, wir machen gerade programm, und da wäre dies gut. Mit vielen grüssen
13)

Olson sendet postwendend Material, für das sich Gerhardt in einem Brief vom 14.11.1950 bedankt. Er hat auch gleich Pläne, nicht nur für die fragmente, sondern auch für separate Publikationen: »Ich bringe gerne einen kleinen band Ihrer gedichte heraus, ich übersetze sie selbst. Die genaue auswahl nehme ich noch vor und schicke Ihnen meine auswahlvorschläge. Auf alle Fälle wird Kingfishers dabeisein.« Erstaunlich in den Briefen Gerhardts an Olson ist das Selbstbewußtsein, mit dem hier ein junger und (trotz allem) noch unerfahrener Verleger seinem doch so viel älteren, erfahreneren und bekannteren 'Kollegen' gegenübertritt. Erstaunlich ist auch das sichere Gefühl, mit dem er The Kingfishers aus Olsons 'Material' für eine deutsche Publikation auswählt. Es ist dies eines der bekanntesten Gedichte des Amerikaners, das von vielen Kennern als sein bestes bezeichnet wird. Es erscheint dann im ersten Heft der fragmente. internationale revue für moderne dichtung das Gedicht lobgesänge (The Praises).

In den folgenden Abschnitten werden die erschienenen und projektierten Hefte der Zeitschrift und die Bände der Schriftenreihe, soweit nicht schon an anderer Stelle geschehen, vorgestellt. Aus den beschreibenden Darstellungen ergibt sich die Bedeutung der Vermittlungsarbeit Gerhardts für seine Zeit.

3.4.2.1  Heft 1
 
Das Impressum enthält folgende Angaben:

 fragmente. eine internationale revue für moderne dichtung
 herausgegeben von: rainer m. gerhardt unter mitarbeit von renate gerhardt
 repäsentanten: robert creeley, littletown, n.h., usa - giambattista vicari, rom
 in zusammenarbeit mit: buddhadeva bose, kalkutta - katusono kaiue, tokio - e. l. revol,
 buenos aires
 die zeitschrift erscheint: monatlich  --  preis des einzelheftes: 1.50 DM, 1.50 sfr, -,50 $ -
 - preis des halbjahresabonnements: 8.- DM, 8.- sfr, 2,75 $  --  preis des jahres-
 abonnements: 15.- DM, 15.- sfr, 5.- $  --  förderpreis des jahresabonnements: 50,-
 DM, 50.- sfr, 25.- $
 gesamtherstellung: konkordia a.g. bühl (baden)
 verlag: rainer m. gerhardt, karlsruhe
 redaktion und auslieferung: freiburg im breisgau, postfach 338
 postscheckkonto: freiburg 9249
 copyright by fragmente, freiburg im breisgau 1951
 alle rechte vorbehalten

Die Auflage betrug 5000 Exemplare. 15)

Titelblatt des ersten Heftes (Originalgröße:  16 x 23 cm)

Der Umfang beträgt 32 Seiten incl. bio-bibliographische Angaben und Inhaltsverzeichnis; dazu die Beilage rundschau der fragmente (11 Text-, 4 Anzeigen- und eine Leerseite). - Die Anzeigen kommen von folgenden Verlagen:
1) Faber & Faber / New Directions: die Werke Ezra Pounds.
2) Gallimard: Werke von Saint-John Perse, Aimé Césaire, Jean Genet, Henri Michaux.
3) Rowohlt Verlag: Werke von Ernest Hemingway, Thomas Wolfe, Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Jacques Prevert, Wolfgang Weyrauch.
4) Piper Verlag: Werke von Stefan Andres, Georg von der Vring, Reinhard Piper, Francis Jordan, Ernst Buschor, Max Beckmann, Wilhelm Hauenstein, Karl Jaspers, Alfred Weber.

Im wahrsten Sinne des Wortes weltumspannend ist die Poesie in diesem Heft vertreten. Besonders deutlich wird dies in der achseitigen auswahl primitiver dichtung, übertragen von Ilse Schneider-Lengyel. (Gedichte, Lieder und Gesänge nordamerikanischer Indianer, Poesie von den Molukken und den Osterinseln, aus Polynesien, Malaisia und aus Äquatorialafrika.)

Es ist heute selbstverständlich, dass primitivkunst, negermasken, indianische sandgemälde etc. in der malerei verarbeitet werden; einzig auf dem gebiet der dichtung ist es dem künstler heute noch versagt, den gleichen fundus von formen und vorstellungen zu gebrauchen. Das kann auch damit zusammenhängen, dass die vorstellungen der dichter und der grössten anzahl der poetischen schriftsteller nicht diejenigen von dichtern sind. 16)

Die meisten der wenigen Leser der neuen Revue für moderne Dichtung mag diese kleine Anthologie verwirrt haben. Zu sehr ist sie in der Lage, unsere üblichen Lektüregewohnheiten und -erfahrungen zu stören. Immerhin ein Leser hat sich gefunden, der diese nun wirklich 'fremden' Texte zu würdigen wußte: Ernst Robert Curtius:

Ich fühle mich angenehm an Taos, das Schwabing New-Mexicos, erinnert; zugleich an Thomas Gray (1716-1771) Ode über den "Fortschritt der Dichtung", wo nachgewiesen wird, das Reich der Muse sei viel weiter als man bisher glaubte: im eisigen Norden tröste sie den vor Kälte zitternden Eskimo, aber auch in Chiles duftenden Wäldern leihe sie den jungen Wilden ihr Ohr. 17)

Abgesehen von Pounds Mediaevalismus-Aufsatz enthält dieses Heft nur Gedichte. Der Bogen spannt sich von anglo-amerikanischer Dichtung (Basil Bunting: Ode; Charles Olson: Lobgesänge; William Carlos Williams: The r r bums; Ezra Pound: E. P. Ode pour l'élection de son sépulchre) zu romanischer Dichtung (Henri Michaux: Poesie pour pouvoir; Aimé Césaire: Tam-tam; Saint-John Perse: Berceuse; Saturno Montanari: Alte fotografie). Bezeichnenderweise ist die deutschsprachige Literatur mit keinem Text vertreten. Die (wenigen) Rezensenten der Zeitschrift (E. R. Curtius, H. de Haas, A. Hollo) listen zuerst die Namen der Autoren auf, um die Bedeutung dieser Neuerscheinung zu begründen und zu beglaubigen. So schreibt auch Robert Creeley in seiner Erinnerung:

What he hoped to do was so much, and is most simply illustrated by a partial list of the contents of the first two issues of fragmente (1951-2) -- all that he was able to publish before his death. (...[s.o.]) He wanted to bring back into the German context all that writing he felt the war had blocked, and at the same time he could not accept such makeshift 'official' translations as would leave out eleven lines of The Wasteland on the grounds 'they were too difficult.' He wanted it right with such an unremitting intensity. 18)

Entziehen wir uns einer Wertung und überlassen auch hier wieder Curtius das Wort:

Sehr gespannt sind wir auf die verheißenen Arbeiten von Arno Schmidt: "Es scheint, daß aus seiner Feder neben Benn und X. der einzige wesentliche Beitrag zur modernen Literatur erfolgen wird."
Seit der Menschheitsdämmerung von Kurt Pinthus ist mir keine so erfrischende modernistische Manifestation vorgekommen wie das vorliegende Heft. Es ist zu hoffen,  daß sich genügend Interesse zeigen werde, damit ein Unternehmen wie Fragmente sein Leben fristen kann. Die Feindschaft dagegen ist natürlich schon rege. 19)
Womit er recht behalten sollte. - Zweieinhalb Jahre später entsann sich Helmuth de Haas des jungen Verlegers und Dichters. Er widmete ihm »Eine Polemik, die genau das war, was sie (nach eigenem Wort) nicht sein wollte: Feindschaft.
Die "Fragmente" wurden, soviel mir bekannt ist, niemals öffentlich befehdet. Sie wurden auch nicht kritisch analysiert. Vielmehr setzte kurze Zeit nach ihrem ersten Erscheinen die Mystifikation ein. Ansonsten gab es sie nicht in der deutschen Gegenwartsliteratur. Sie wurden überwuchert. Dabei hätten sie Anlaß zur Unterscheidung der Geister sein können. Es muß ja nicht immer die Gruppe 47 Anlaß zur Unterscheidung der Geister sein. Auch die Gruppe 47 hat ein echtes Team gebildet. Im Gegensatz zum Kreis der "Fragmente" ist sie nicht präpotent, sondern offen, nüchtern, realistisch. Trotz des Hinweises von E. R. Curtius also und eines anderen von G. Benn gibt es die "Fragmente" in der polyphonen deutschen Gegenwart nur im Paradox: insofern es sie nicht gibt. 20)
Die sich hier anschließende Frage lautet: Warum beschäftigt sich ein Feuilletonist in einer doch recht umfassenden Rezension mit einer 'nichtvorhandenen' Zeitschrift? Von 'Mystifikation' zu reden vor dem Hintergrund einer Rezension und einem beiläufigen und nur dem Eingeweihten entzifferbaren Hinweis in einer Autobiographie ist nun wohl doch etwas mehr als bloße Übertreibung. Daß die Fragmente 'überwuchert' wurden, spricht nicht gegen sie, sondern gegen die meisten anderen literarischen Produkte der Zeit. Immerhin gesteht de Haas ihnen zu, daß sie »Anlaß zur Unterscheidung der GeisterFehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.der fünfziger Jahre als »polyhonFehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.
Im weiteren Verlauf seines Artikel beschäftigt sich der Polemiker dann nicht so sehr mit der Zeitschrift, sondern mit Gerhardts zweitem Gedichtband umkreisung (vgl. 3.3.2). Das Neue, das ihm hier vor Augen lag, hat er nicht erkannt. Doch auch in diesem Fall hat Ernst Robert Curtius die richtigen Worte gefunden, die zwar nicht auf den vorliegenden Text gemünzt sein konnten, aber ihn doch treffend charakterisieren:

Indes auch der Snobismus hat seinen Wert als elektrischer Leiter. Viel schlimmer ist, daß der heute in Deutschland geübten literarischen Kritik die unentbehrlichen Erfordernisse des Handwerks fehlen: Kenntnisse, Intelligenz, Verantwortung und ein spontanes Reagieren auf Werte, die erst entdeckt werden müssen. 21)

3.4.2.2  Heft 2

Wesentliche Änderungen im Impressum sind: »herausgegeben von rainer m. gerhardt unter mitarbeit von klaus bremer, robert creeley und renate gerhardt (...) die zeitschrift erscheint unregelmäßig.« Es gibt keine ausländischen Repräsentanten mehr, die weltumspannenden Beziehungen des ersten Impressums wurden aufgegeben.»Das Heft beginnt die Seitenzählung mit 33. Der Umfang beträgt auch hier 32 Seiten. Es gibt keine Anzeigen.

Das zweite und letzte Heft der fragmente führt die 'Tradition' des ersten Heftes weiter und dies nicht nur im Geist des bereits vorhandenen Programmes, sondern auch im Namen der Autoren bzw. der anonymen Kollektive. Die übertragung primitiver dichtung aus Heft 1 wird fortgesetzt mit dem 'gedicht' traurigkeit, einer das Licht und den Himmel beschwörenden Formel der Eskimo, übertragen von P.-E. Victor und Renate Gerhardt. Ebenfalls wird mit einem neuen Gedicht der Zyklus tam-tam von Aimé Césaire fortgeführt (außerdem lesen wir von ihm die wunderbaren waffen, ein an Saint-John Perse gemahnendes Prosagedicht, das in sehr exotischen und großflächigen Bildern eine Szene ausmalt, die an eine sehr fremdartige Apokalypse gemahnt.

Während im ersten Heft ausschließlich übersetzte Texte zu lesen waren, sind nun auch zwei deutschsprachige Gedichte zu finden: Klaus Bremer, sirenengedicht (vgl. 3.4.2, den Abschnitt über Bremers Gedichtband poesie) und Rainer M. Gerhardt, fragmente (vgl. 3.3.2).

Drei weitere Autoren aus dem ersten Heft sind auch hier vertreten: Ezra Pound, William Carlos Williams und Charles Olson. In der Übertragung von Rainer M. Gerhardt wird der Abschluß der Pisan Cantos veröffentlicht: Canto LXXXIV: eine großartige Zusammenfassung der sehr eigenwilligen 'Geldtheorie' des alternden Dichters und gleichzeitig eine Summe seiner 'Erfahrungen' im Militärlager von Pisa:

wenn rauher frost dein zelt berennt
dann sagst du dank wenn die nacht zu end.
22)

In der Übertragung des Herausgebers erscheinen die rote kirche von William C. Williams und diese tage des Freundes Charles Olson:

was immer du auch zu sagen hast, lass
die wurzeln dran, lass sie
baumeln
und den dreck
             klar zu machen nur
             woher sie kommen von
23)
Dieses am 10. Januar 1950 geschriebene Gedicht enthält in nuce das gesamte Programm Rainer M. Gerhardts, seinen kulturgeschichtlichen Hintergrund: Es geht dem Dichter um das Verstehen und Ergreifen der Tradition, der Wurzeln des Seins, um sie in der aktuellen Zeit sichtbar und verständlich zu machen. Es wurde zuerst publiziert in Imagi, No. 13. Gerhardt war der europäische Repräsentant dieser Zeitschrift.
Der spanische Lyriker Rafael Alberti (geb. 1902) erweitert den Kreis der Autoren aus den romanischsprachigen Ländern mit dem gedicht die eingeschlossene, das auf eine sehr kunstvolle Weise versucht, einen Wechsel von dia- und monologischer Form in der Lyrik zu etablieren. Antonin Artaud (1896-1948), vom dem mehrere Werke im 'Verlag der Fragmente' erscheinen sollten, ist vertreten mit der ritus der schwarzen sonne.

Es gibt in den Briefen Gerhardts an Robert Creeley viele Aufforderungen, Manuskripte zu schicken (vgl. den Briefwechsel Olson - Creeley). Dieser ist den Aufforderungen nachgekommen, denn es gibt in verschiedenen Archiven amerikanischer Universitäten Manuskripte, die dies bestätigen. Im zweiten Heft der fragmente sind in Gerhardts Übersetzung zwei Kurzgeschichten Creeleys (die geisterrunde und der liebhaber) aus seinem 1954 im Selbstverlag erschienenen Band The Gold Diggers erschienen. Die deutsche Fassung (übersetzt und herausgegeben von Klaus Reichert) enthält die Widmung: »Die deutsche Ausgabe ist dem Andenken Rainer M. Gerhardts gewidmet.  R.C.«

3.4.2.3  Weitere (projektierte) Hefte

Im Verlagsprospekt von 1954 sind zwei weitere Hefte der fragmente angekündigt, die aber nicht erschienen sind. Weitgehend fortgeschritten scheinen die Vorbereitungen zu Heft 3/4 ('deutschlandsonderheft') gewesen zu sein. Der Plan muß relativ lange bestanden haben, denn in einem Brief vom 12.7.1951 an Arno Schmidt kündigt Gerhardt dieses Heft als Nr. 2 an:

...ich kann endlich die beruhigende mitteilung machen, dass nun endlich das zweite heft erscheinen kann. Ich habe vorgesehen, es als Deutschlandsonderheft herauszubringen, und hätte gern einen beitrag von Ihnen - ich muss meinen lesern ein versprechen einlösen - ich bespreche auch Ihre beiden bücher im gleichen heft. Es wird ein grösserer aufsatz, indem ich gegen Jahnn und Broch absetze und Sie sehr preise, was aufrichtig und meiner überzeugung entsprechend und gemäss erfolgen wird. 25)

Das ebenfalls nicht mehr erschienene Heft5 sollte Beiträge von Kaita Fodeba, J.-P. Duprey, Antonin Artaud, Gertrude Stein, Jorge Andrade, Henry Miller und anderen enthalten.

Anselm Hollo, der nicht nur Allen Ginsbergs berühmten Gedichtband Howl in die deutsche Sprache übertrug, sondern auch einige Gedichte Gerhardts ins Amerikanische, faßt in seinen Erinnerungen an die fragmente die Verdienste dieser Zeitschrift zusammen:

Throughout, in the choice of material, in gerhardt's own poems (...) two definite concerns are apparent: first, the wish to give german contemporaries a sense of what had been, what could be done in poetry, outside of a stagnant concept of the 'german tradition': gerhardt refers to the then (as now) established german poets 'petit-bourgeois romanticism' and their 'careful nurturing of privat emotions'; and secondly, an awareness of the possibilities given, in the work he translated and published for a worldwide unity of men, each working in his own place, and out of it, yet working together, formulating, through (not by) their work a new way of seeing, seeing a new way through the world, towards a new culture. 26)


Anmerkungen:

1) Janet K. King: Literarische Zeitschriften 1945-1970, Stuttgart 1974, Seite 59.
2) Ebda.
3) Vgl. fragmente. blaetter für freunde, Heft 1, a.a.O., letzte Seite.
4) Olson/Creeley, a.a.O., Seite 30.
5) Delmore Schwartz: Lasst uns betrachten, wo die großen maenner sind, in: fragmente. blaetter fuer freunde, a.a.O.
6) Die Arbeiten von Renate Zacharias werden von Gerhardt in seinem Brief an Robert Creeley (Nov. 1950) treffend charakterisiert (Zitat, s.o.), so daß eine nähere Betrachtung hier entfallen kann.
7) Andreas Puff-Trojan: "Akzente kann man setzen..." Ein Gespräch mit der Verlegerin Renate Gerhardt, in: Falter, Wien, Heft 8/1987, Seite 10.
8) Helmut Salzinger: Schwarze Witwe. Des Falles Gerhardt anderer Teil, Typoskript, Seite 4.
9) Walter Hilsbecher: Sporaden, in: fragmente. blätter für freunde, Heft 6, a.a.O.
10) Rainer M. Gerhardt an Gottfried Benn, 20.9.1950, a.a.O., Seite 52.
11) Der entsprechende Brief an Creeley wurde bereits zu Beginn des Kapitels 3.4 zitiert.
12) Vgl. Gerhardts Brief an Olson vom 14.11.1950, abgedruckt in: Olson/Creeley, Correspondence, Vol. 4, nach Seite 68.
13) Rainer M. Gerhardt an Charles Olson, in: Hyner / Salzinger, Leben..., Teil I, a.a.O., Seite 55.
14) Gerhardt an Olson, 14.11.1950, in: Olson / Creeley, a.a.O., nach Seite 68.
15) »He printed 5000 copies, & has some 2000 moving, & of that 500 sold.« Robert Creeley an Charles Olson, 14. 8. 1951, in: Olson / Creeley, Correspondence, Vol. 7, Santa Rosa 1987, Seite 90.»
16) Gerhardt, Rundschau, a.a.O., Seite 4.
17) Curtius, Fragmente, a.a.O.
18) Creeley, Rainer Gerhardt. A Note, a.a.O., Seite 5.
19) Curtius, a.a.O.
20) Helmuth de Haas: Späte Umkreisung der zwanziger Jahre, a.a.O.
21) Curtius, a.a.O.
22) Ezra Pound: Canto LXXXIV, in: fragmente. internationale revue für moderne dichtung, Heft 2, Karlsruhe 1952, Seite 39.
23) Charles Olson: diese tage, in: fragmente, Heft 2, a.a.O., Seite 39.
24) Robert Creeley: Die Goldgräber. Erzählungen, Salzburg 1992, Seite 5.
25) Rainer M. Gerhardt an Arno Schmidt (12.7.1951), Typoskript, Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld.
26) Anselm Hollo: fragmente, in: WORK / 3, a.a.O., Seite 35.