3.4.2 fragmente. internationale revue für moderne dichtung Diese kurzlebige Zeitschrift versuchte, auf die internationale Dichtung außerhalb des deutschen Literaturbetriebs hinzuweisen. Durch Kontaktaufnahme der Mitarbeiter zu deutschen und ausländischen Autoren wurde gegenseitige Anregung angestrebt. Die abgedruckten Texte und Gedichte sind weitgehend formalistisch-experimenteller Art, gelegentlich in verschiedenen Sprachen zugleich. Der ersten Nummer ist eine Studie über Ezra Pounds 'Mittelalterlichkeit' vorangesetzt, in der zweiten Nummer wird sein Canto LXVVVIV abgedruckt. Viele der ausländischen Autoren (A.Artaud, H.Michaux, St.John Perse, R.Alberti, LuChi, A.Cesaire, W.C.Williams u.a.) erscheinen in Übersetzungen des Herausgebers. 1) Wenn der Leser ein 'Nachschlagewerk' über literarische Zeitschriften
im Nachkriegsdeutschland in die Hand nimmt, möchte er möglichst
korrekt informiert werden. In dem hier zitierten Abschnitt stimmt hingegen
so gut wie nichts. Abgesehen davon, daß eine solide Schulbildung
es ermöglichen sollte, die Zahl 84 auch in lateinischen Ziffern schreiben
zu können, gibt es keine »Studie über Ezra Pounds 'Mittelalterlichkeit'«.
"Fragmente" - So nennt sich die "neue Revue für moderne Dichtung",
deren erstes Heft im Juni in Freiburg i.Br. erschienen ist. Ein Jahresabonnement
kostet 15 Schweizer Franken. In Zürich, Schaffhausen, Winterthur,
Basel gibt es Menschen, die im Jahr das Hundertfache für moderne Malerei
und Graphik ausgeben. Ich hoffe, einige davon nehmen ein Jahresabonnement
oder noch besser ein Förderabonnement (50 sFR.). Denn moderne Dichtung,
wie sie hier gemeint ist, braucht Mäzene. Je demokratischer ein Gemeinwesen,
um so dringlicher ist eine Neubelebung des Mäzenats. Das ist eine
Feststellung soziologischer Art, die leicht evident zu machen wäre.
Aus Basel sind einige Fälle literarischen Mäzenatentums in letzter
Zeit beglaubigt. Ich zweifle nicht, daß dies auch für die andern
genannte Städte der Fall ist oder sein wird.
Vor den beiden Heften der fragmente. internationale revue für moderne
dichtung (1951/52) und vor den sechs Heften der fragmente. blätter
für freunde (1949-1951) gab es bereits einen Austausch von Manuskripten
eigener und übersetzter Texte, der aber ab einem bestimmten Punkt
nicht mehr zu praktizieren war. 3)
Then comes note of ourselves: the fragmente-gruppe. We tried to push
things from the first; Klaus Bremer, who picks up from the french, myself,
from the english / american, & my colleague Renate Zacharias, from
the russian-orthodox-church poetry. We have (with the exeption of Z / (whose
husband is an isolate german-orthodox priest)) put the problem of form
square in the center of our concern. In germany, this ist what amts to
a criminal act. Well, we don't give a damn if we're taken note of openly
- they call us the formalists, etc. Klaus Bremer works in a fixed, evenly-flowing
rhythm with small variations, tries to come to new things, i.e., work over
the line, rhythm-breaks / broad. For myself, I try the element of rhythm
(which Pound makes for me) with the melodic (perse), i.e., to bind them,
& by way of variation, continual ride-over from form to form, try to
make the stuff dense & strong. I experiment, i.e., add such as well. 4)
Der erste Text des ersten Heftes der fragmente. blätter für
freunde ist ein Prosastück von Klaus Bremer, die letzte Veröffentlichung
des 'Verlags der Fragmente' ist ein Gedichtband von Bremer. Es gibt eine
Kontinuität und ein Beharren auf klaren Zielen.
Das zweite Heft erweitert das Spektrum durch Gedichte von Dora Tatjana
Soellner und Renate Zacharias. Es sind dies Gedichte, die einerseits (Soellner)
die 'spielerisch'-experimentelle und andererseits (Zacharias) die mehr
traditionsgebundene Richtung der fragmente vertreten. In seinem Gedicht
Lasst uns betrachten, wo die grossen maenner sind versucht der amerikanische
Lyriker Delmore Schwartz (1913-1966) die großen Vertreter der literarischen
Moderne von Joyce über Rilke bis Thomas Mann dem Leser ins Gedächtnis
zurückzurufen. Lektüre wird zur Lebenshilfe: »Wer wird
das Kind quälen da es doch lesen kann« Ezra Pound ist mit
seinem Canto XIII vertreten.
Nr. 4 ist das umfangreichste und interessanteste Heft dieser Reihe.
Es ist eine durchkomponierte Collage. Eingerahmt von Teilen aus Saint-John
Perse' Gedicht Regen finden wir je ein Prosastück von Renate Zacharias
und Klaus Bremer.
Schon zur Zeit der "Fragmente" hatte man eine Teilübersetzung aus
Henry Millers "Tagebuch eines Diebes" an Ledig-Rowohlt geschickt, weil
es eines Verlages bedurfte, der auch etwas "juristisch durchfechten" konnte.
Und prompt stand Ledig mit Miller (auch mit Genet) vor Gericht als Verbreiter
von obszönen Schriften! 7)
Anfang der sechziger Jahre gründete sie [Renate Gerhardt, FJK] den gerhardt verlag, berlin, dessen Produktion sehr bald von der Kritik in den höchsten Tönen gelobt wurde, und zwar mit Geld, das ihr von Henry Miller gestellt worden war. Über die Beziehung zwischen Miller und Renate Gerhardt ist in Literatenkreisen viel geklatscht worden. Was dabei gewöhnlich unerwähnt blieb, ist die Tatsache, daß Rainer Gerhardt Millers deutscher Entdecker war. (...) So ließe sich Millers finanzielle Zuwendung an Renate auch als Dank an Rainer verstehen, als Beitrag zur Fortsetzung von dessen ehrgeizigem literarischen Programm durch Renate, damit die unter dem Namen 'Fragmente' begonnene Arbeit unter dem Namen "gerhardt" vollendet werden könne. 8) Heft Nr. 6 stellt zwei neue Autoren vor: Der Gruppe 47 - Autor Walter
Hilsbecher ist vertreten mit drei Aphorismen (Beispiel: »Wenn das
rad des Seins sich schneller zu drehen beginnt, zieht uns die fliehkraft
ab von der nabe.«. Ein Beispiel geistlich-religiöser Dichtung,
die ihre Herkunft von der Naturlyrik Walt Whitmans nicht leugnet, liefert
der amerikanische Dichter Theodore Roethke (1908-1963) mit seinem Gedicht
die gestalt des feuers. Höhepunkt des Heftes ist die erste Übertragung
des Usura-Cantos XLV von Ezra Pound (vgl. 3.4.1). Trotz der auf der letzten
Seite versprochenen Weiterführung wird die erste Folge der fragmente
mit diesem Heft beeendet.
...wollen wir mit dem 1.1.1951 die "fragmente" als monatsschrift (48
seiten) erscheinen lasse. Es wäre die einzige zeitschrift der moderne
in deutscher sprache. Aimee Cesaire [sic!], Henry Miller, Ezra Pound, Charles
Olson, Morse, Montanelli, Perse, W. C. Williams, Katue, eine grosse anzahl
anderer fast unbekannter junger dichter werden mitveröffentlichen. 10)
Sehr geehrter herr Olson,
Olson sendet postwendend Material, für das sich Gerhardt in einem Brief vom 14.11.1950 bedankt. Er hat auch gleich Pläne, nicht nur für die fragmente, sondern auch für separate Publikationen: »Ich bringe gerne einen kleinen band Ihrer gedichte heraus, ich übersetze sie selbst. Die genaue auswahl nehme ich noch vor und schicke Ihnen meine auswahlvorschläge. Auf alle Fälle wird Kingfishers dabeisein.« Erstaunlich in den Briefen Gerhardts an Olson ist das Selbstbewußtsein, mit dem hier ein junger und (trotz allem) noch unerfahrener Verleger seinem doch so viel älteren, erfahreneren und bekannteren 'Kollegen' gegenübertritt. Erstaunlich ist auch das sichere Gefühl, mit dem er The Kingfishers aus Olsons 'Material' für eine deutsche Publikation auswählt. Es ist dies eines der bekanntesten Gedichte des Amerikaners, das von vielen Kennern als sein bestes bezeichnet wird. Es erscheint dann im ersten Heft der fragmente. internationale revue für moderne dichtung das Gedicht lobgesänge (The Praises). In den folgenden Abschnitten werden die erschienenen und projektierten Hefte der Zeitschrift und die Bände der Schriftenreihe, soweit nicht schon an anderer Stelle geschehen, vorgestellt. Aus den beschreibenden Darstellungen ergibt sich die Bedeutung der Vermittlungsarbeit Gerhardts für seine Zeit. 3.4.2.1 Heft 1
fragmente. eine internationale revue für moderne dichtung
Die Auflage betrug 5000 Exemplare. 15)
Titelblatt des ersten Heftes (Originalgröße: 16 x 23 cm) Der Umfang beträgt 32 Seiten incl. bio-bibliographische Angaben
und Inhaltsverzeichnis; dazu die Beilage rundschau der fragmente (11 Text-,
4 Anzeigen- und eine Leerseite). - Die Anzeigen kommen von folgenden Verlagen:
Im wahrsten Sinne des Wortes weltumspannend ist die Poesie in diesem Heft vertreten. Besonders deutlich wird dies in der achseitigen auswahl primitiver dichtung, übertragen von Ilse Schneider-Lengyel. (Gedichte, Lieder und Gesänge nordamerikanischer Indianer, Poesie von den Molukken und den Osterinseln, aus Polynesien, Malaisia und aus Äquatorialafrika.) Es ist heute selbstverständlich, dass primitivkunst, negermasken, indianische sandgemälde etc. in der malerei verarbeitet werden; einzig auf dem gebiet der dichtung ist es dem künstler heute noch versagt, den gleichen fundus von formen und vorstellungen zu gebrauchen. Das kann auch damit zusammenhängen, dass die vorstellungen der dichter und der grössten anzahl der poetischen schriftsteller nicht diejenigen von dichtern sind. 16) Die meisten der wenigen Leser der neuen Revue für moderne Dichtung mag diese kleine Anthologie verwirrt haben. Zu sehr ist sie in der Lage, unsere üblichen Lektüregewohnheiten und -erfahrungen zu stören. Immerhin ein Leser hat sich gefunden, der diese nun wirklich 'fremden' Texte zu würdigen wußte: Ernst Robert Curtius: Ich fühle mich angenehm an Taos, das Schwabing New-Mexicos, erinnert; zugleich an Thomas Gray (1716-1771) Ode über den "Fortschritt der Dichtung", wo nachgewiesen wird, das Reich der Muse sei viel weiter als man bisher glaubte: im eisigen Norden tröste sie den vor Kälte zitternden Eskimo, aber auch in Chiles duftenden Wäldern leihe sie den jungen Wilden ihr Ohr. 17) Abgesehen von Pounds Mediaevalismus-Aufsatz enthält dieses Heft nur Gedichte. Der Bogen spannt sich von anglo-amerikanischer Dichtung (Basil Bunting: Ode; Charles Olson: Lobgesänge; William Carlos Williams: The r r bums; Ezra Pound: E. P. Ode pour l'élection de son sépulchre) zu romanischer Dichtung (Henri Michaux: Poesie pour pouvoir; Aimé Césaire: Tam-tam; Saint-John Perse: Berceuse; Saturno Montanari: Alte fotografie). Bezeichnenderweise ist die deutschsprachige Literatur mit keinem Text vertreten. Die (wenigen) Rezensenten der Zeitschrift (E. R. Curtius, H. de Haas, A. Hollo) listen zuerst die Namen der Autoren auf, um die Bedeutung dieser Neuerscheinung zu begründen und zu beglaubigen. So schreibt auch Robert Creeley in seiner Erinnerung: What he hoped to do was so much, and is most simply illustrated by a partial list of the contents of the first two issues of fragmente (1951-2) -- all that he was able to publish before his death. (...[s.o.]) He wanted to bring back into the German context all that writing he felt the war had blocked, and at the same time he could not accept such makeshift 'official' translations as would leave out eleven lines of The Wasteland on the grounds 'they were too difficult.' He wanted it right with such an unremitting intensity. 18) Entziehen wir uns einer Wertung und überlassen auch hier wieder Curtius das Wort: Sehr gespannt sind wir auf die verheißenen Arbeiten von Arno Schmidt:
"Es scheint, daß aus seiner Feder neben Benn und X. der einzige wesentliche
Beitrag zur modernen Literatur erfolgen wird."
Indes auch der Snobismus hat seinen Wert als elektrischer Leiter. Viel schlimmer ist, daß der heute in Deutschland geübten literarischen Kritik die unentbehrlichen Erfordernisse des Handwerks fehlen: Kenntnisse, Intelligenz, Verantwortung und ein spontanes Reagieren auf Werte, die erst entdeckt werden müssen. 21) 3.4.2.2 Heft 2 Wesentliche Änderungen im Impressum sind: »herausgegeben von rainer m. gerhardt unter mitarbeit von klaus bremer, robert creeley und renate gerhardt (...) die zeitschrift erscheint unregelmäßig.« Es gibt keine ausländischen Repräsentanten mehr, die weltumspannenden Beziehungen des ersten Impressums wurden aufgegeben.»Das Heft beginnt die Seitenzählung mit 33. Der Umfang beträgt auch hier 32 Seiten. Es gibt keine Anzeigen. Das zweite und letzte Heft der fragmente führt die 'Tradition' des ersten Heftes weiter und dies nicht nur im Geist des bereits vorhandenen Programmes, sondern auch im Namen der Autoren bzw. der anonymen Kollektive. Die übertragung primitiver dichtung aus Heft 1 wird fortgesetzt mit dem 'gedicht' traurigkeit, einer das Licht und den Himmel beschwörenden Formel der Eskimo, übertragen von P.-E. Victor und Renate Gerhardt. Ebenfalls wird mit einem neuen Gedicht der Zyklus tam-tam von Aimé Césaire fortgeführt (außerdem lesen wir von ihm die wunderbaren waffen, ein an Saint-John Perse gemahnendes Prosagedicht, das in sehr exotischen und großflächigen Bildern eine Szene ausmalt, die an eine sehr fremdartige Apokalypse gemahnt. Während im ersten Heft ausschließlich übersetzte Texte zu lesen waren, sind nun auch zwei deutschsprachige Gedichte zu finden: Klaus Bremer, sirenengedicht (vgl. 3.4.2, den Abschnitt über Bremers Gedichtband poesie) und Rainer M. Gerhardt, fragmente (vgl. 3.3.2). Drei weitere Autoren aus dem ersten Heft sind auch hier vertreten: Ezra Pound, William Carlos Williams und Charles Olson. In der Übertragung von Rainer M. Gerhardt wird der Abschluß der Pisan Cantos veröffentlicht: Canto LXXXIV: eine großartige Zusammenfassung der sehr eigenwilligen 'Geldtheorie' des alternden Dichters und gleichzeitig eine Summe seiner 'Erfahrungen' im Militärlager von Pisa: wenn rauher frost dein zelt berennt
In der Übertragung des Herausgebers erscheinen die rote kirche von William C. Williams und diese tage des Freundes Charles Olson: was immer du auch zu sagen hast, lass
Es gibt in den Briefen Gerhardts an Robert Creeley viele Aufforderungen, Manuskripte zu schicken (vgl. den Briefwechsel Olson - Creeley). Dieser ist den Aufforderungen nachgekommen, denn es gibt in verschiedenen Archiven amerikanischer Universitäten Manuskripte, die dies bestätigen. Im zweiten Heft der fragmente sind in Gerhardts Übersetzung zwei Kurzgeschichten Creeleys (die geisterrunde und der liebhaber) aus seinem 1954 im Selbstverlag erschienenen Band The Gold Diggers erschienen. Die deutsche Fassung (übersetzt und herausgegeben von Klaus Reichert) enthält die Widmung: »Die deutsche Ausgabe ist dem Andenken Rainer M. Gerhardts gewidmet. R.C.« 3.4.2.3 Weitere (projektierte) Hefte Im Verlagsprospekt von 1954 sind zwei weitere Hefte der fragmente angekündigt, die aber nicht erschienen sind. Weitgehend fortgeschritten scheinen die Vorbereitungen zu Heft 3/4 ('deutschlandsonderheft') gewesen zu sein. Der Plan muß relativ lange bestanden haben, denn in einem Brief vom 12.7.1951 an Arno Schmidt kündigt Gerhardt dieses Heft als Nr. 2 an: ...ich kann endlich die beruhigende mitteilung machen, dass nun endlich das zweite heft erscheinen kann. Ich habe vorgesehen, es als Deutschlandsonderheft herauszubringen, und hätte gern einen beitrag von Ihnen - ich muss meinen lesern ein versprechen einlösen - ich bespreche auch Ihre beiden bücher im gleichen heft. Es wird ein grösserer aufsatz, indem ich gegen Jahnn und Broch absetze und Sie sehr preise, was aufrichtig und meiner überzeugung entsprechend und gemäss erfolgen wird. 25) Das ebenfalls nicht mehr erschienene Heft5 sollte Beiträge von Kaita Fodeba, J.-P. Duprey, Antonin Artaud, Gertrude Stein, Jorge Andrade, Henry Miller und anderen enthalten. Anselm Hollo, der nicht nur Allen Ginsbergs berühmten Gedichtband Howl in die deutsche Sprache übertrug, sondern auch einige Gedichte Gerhardts ins Amerikanische, faßt in seinen Erinnerungen an die fragmente die Verdienste dieser Zeitschrift zusammen: Throughout, in the choice of material, in gerhardt's own poems (...) two definite concerns are apparent: first, the wish to give german contemporaries a sense of what had been, what could be done in poetry, outside of a stagnant concept of the 'german tradition': gerhardt refers to the then (as now) established german poets 'petit-bourgeois romanticism' and their 'careful nurturing of privat emotions'; and secondly, an awareness of the possibilities given, in the work he translated and published for a worldwide unity of men, each working in his own place, and out of it, yet working together, formulating, through (not by) their work a new way of seeing, seeing a new way through the world, towards a new culture. 26) 1) Janet K. King: Literarische Zeitschriften 1945-1970, Stuttgart 1974,
Seite 59.
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