3.4  Der Vermittler : Der Übersetzer

»Als 1945 die Isolation zu Ende ging, in der wir fast anderthalb Jahrzehnte gelebt hatten, gab es für uns manche geistige und künstlerische Überraschung. Zu diesen Überraschungen gehörte die Entdeckung der modernen angloamerikanischen Poesie. Wir erfuhren zum ersten Mal, daß es in der ersten Jahrhunderthälfte in der angelsächsischen Welt eine ganze Reihe bedeutender Lyriker gegeben hat und gab, die, während der Strom des geistigen Lebens bei uns stockte und schließlich ausgetrocknet war, einen neuen Typ des Gedichts, eine neue Dichtung geschaffen hatten.« So schrieb 1956 Kurt Heinrich Hansen im Nachwort zu der von ihm herausgegebenen und übertragenen Anthologie 'Gedichte aus der Neuen Welt'. Während er sich auf die Lyrik der USA beschränkte, spannte Rainer Maria Gerhardt den Bogen weiter. Nichts weniger als die Poesie der Welt war sein Ziel: Lyrik und Prosa aus allen Erdteilen und allen Völkern, von den Texten der Surrealisten bis hin zu den Dichtungen der Eskimos wollte er vorstellen.

Sein Programm fasst er in einem Brief an Robert Creeley zusammen; gleichzeitig bittet er ihn, amerikanischer Herausgeber der fragmente zu werden.

You ask me, will we throw in with you, i.e., send work, take the risk of publishing in translation, etc. I counter, quick, with another idea - will you be our Am/ representative? The gig will be poetry, say, exclusive, i.e., little prose, essays only on style & language, abt form & headaches of this biz - well, anything hanging to that area, to the point, that cd bring attention, say, & criticism to all the heads of la vie de l'art.
In the near future, wd like to send you gig I did on these heads, which will show you, better, what's up.
Well, wd be real happy if you'd throw in with us, on this biz to get poems, that are worth the printing. And wd be real pleased, if we cd have something thru you for each issue. On the addresses you note, have already written them, & will hope for answers.
Well, will you make this gig? (Can you?) It wd be too much, or so we think. Anyhow, cd I pay for yr time & trouble, cost, already? That much you're in on, anyhow.
This week, will send off a little collection, a few poems each from the newer poets. I'll send one to you & to each of those you named. Forgive this present shakiness, but wanted to show you I was sill alive. The next letter will get into it.
One thing more - if you have work there, on hand, could you let me have something soon? With such, we could start things moving.
                    All best,
                              Yrs/
                                  Rainer M. Gerhardt
2)
Es war jedoch nicht eine einseitige Vermittlungsarbeit, die ausschließlich darauf ausgerichtet war, das deutsche Lesepublikum mit der internationalen modernen Literatur bekanntzumachen. Robert Creeley hat immer wieder betont, daß Rainer M. Gerhardt eine bedeutende Rolle bei der Durchsetzung deutscher Literatur (insbesondere der des Expressionismus) in den USA gespielt hat. 3)

3.4.1 Rainer Maria Gerhardt als Übersetzer

Bevor es möglich ist, auf Rainer M. Gerhardts Qualitäten als Übersetzer einzugehen, sollten zwei Punkte mit Nachdruck hervorgehoben werden:
Wenn es im Jahre 1950 das Ziel eines literaturbesessenen Menschen war, die deutsche Nachkriegsliteratur mit den Texten der modernen Weltliteratur vertraut zu machen, mußte er in der Lage sein, diese zu übersetzen. Es ist einsichtig, daß ein Mensch, der im Jahre 1945 achtzehn Jahre alt war, gegen Kriegsende noch eingezogen wurde, Fahnenflucht beging, nicht auf eine gesicherte Schulbildung zurückgreifen konnte. Viele dieser jungen Menschen (so z.B. auch der bereits erwähnte Werner Riegel) waren aufgrund dieser Zwangssituation auf eigene Bemühungen angewiesen. Sie waren Autodidakten im positiven Sinne des Wortes und eben nicht professionell ausgebildete Literaturvermittler mit fundierten Grundkenntnissen.
Zum zweiten muß bedacht werden, daß 'Erst'-Übersetzungen schwieriger Literatur immer risikoreich sind und selten dem Original angemessen sein können. Der 'Fall' Ulysses hat dies deutlich gezeigt. 4)

Es gibt Kritik an Gerhardts übersetzerischen Fähigkeiten. Dazu muß einschränkend gesagt werden, daß auch nicht immer klar ist, welche Rolle seine Frau Renate bei den Übersetzungen gespielt hat. Anhand von drei Texten sollen seine deutschen Fassungen mit denen anderer Übersetzer verglichen werden:
1)  Ezra Pound: 'Ode pour l'election...'
    (Übersetzer: R.M.Gerhardt - E.Hesse - K.Lubbers)
2)  Ezra Pound: Canto XLV
    (Übersetzer: R.M.Gerhardt - E.Hesse - E.Pound)
3)  Charles Olson: The Praises
    (Übersetzter: R.M.Gerhardt - K.Reichert)
Am Beispiel von Saint-John Perse' Berceuse kann die Übersetzertätigkeit von Renate Gerhardt vorgestellt werden.

Ezra Pound: Ode pour l'élection... 5)

Dieses Gedicht ist das erste des 1920 erschienen Zyklus' Hugh Selwyn Mauberley. Die erste veröffentlichte Übersetzung stammt von Rainer M. Gerhardt. 6) 1974 veröffentlichte Hans-Joachim Zimmermann im Zusammenhang einer Interpretation eine eigene Übersetzung. 7) Er kam zu einem Urteil über die bereits vorliegenden Übersetzungsversuche:

E. Hesse hat die Mauberley-Sequenz in Deutsche übersetzt (...). Ihre Version ist philologisch unbefriedigend, desgl. die Übersetzung von R.M. Gerhardt (...). - Bei der hier abgedruckten Übers. des Verf. ging es in erster Linie um Wort- und Zeilentreue. Die fremdsprachigen Zitate wurden verdeutscht. 8)

Bereits der letzte Satz läßt diesen neueren Versuch noch vor einer genaueren Untersuchung in einem recht zweifelhaften Licht erscheinen. Ezra Pound hat seine fremdsprachigen Zitate immer als (zusätzliches) formales Mittel verstanden, so daß auch ohne deren Kenntnis eine dem Gedicht angemessene Lektüre möglich ist. Sie zu übersetzen entspräche nicht den Intentionen des Dichters.
An vier Beispielen, die Zimmermann anscheinend vor Schwierigkeiten stellten, sollen hier Möglichkeiten der Übertragung verglichen werden:
a) »resuscitate (the dead art of poetry)int mit der Gerhardt'schen Version am zutreffendsten wiedergegeben worden zu sein.
b) »seeing »lee-waydt weit eher gerechtfertigt.
d) »(No) adjunct (to the Muses' diadem)erreicht Eva Hesse mit 'gereicht den Musen nicht zum Ruhm'.

Wort- und Zeilentreue können (vielleicht) für ÜbersetzungsVERSUCHE interessant sein, ob sie den TON 9) des Dichters treffen, muß mehr als bezweifelt werden.
Zu Rainer Maria Gerhardt ist zu sagen, daß er sich bemüht, den Ton Pounds zu treffen, z.B. durch Verwendung des Wortes 'Abtrift' statt des etwas zu alltäglichen 'Abstand'.
Ezra Pound: Canto XLV 10)

Mit ihrer Ausgabe der Usura-Cantos hat Eva Hesse gezeigt, welch einen riesigen Komplex an ökonomischen, geschichtlichen und politischen Studien und Spekulationen Pound in diesem berühmten Gedicht verarbeitet hat. Wenn Rainer M. Gerhardt 1950 einen ersten Übersetzungsversuch 11) wagt, so mußten ihm die meisten der notwendigen Informationen fehlen, die seiner Nachfolgerin in späteren Jahren zur Verfügung standen. Es kann festgestellt werden, daß auch hier, wie schon im ersten Beispiel, Gerhardt den TON Pounds trifft. Der ungewöhnliche Gebrauch der Syntax findet seine Entsprechung in der deutschen Version (vgl. die Übertragung der Zeilen 24-34). Allerdings geht der Rückgriff auf mittelhochdeutsche Wendungen (Zeile 14-15, u.a.), der zudem nicht konsequent durchgeführt wird, doch wohl am Original vorbei.
Offensichtliche Übersetzungsfehler sind ebenfalls vorhanden, so wird z.B. Zeile 49 (»Corpses are set to banquet« übersetzt mit »Leichname sind niedergesessen zum Festmahl«). Bei Eva Hesse lautet diese Zeile: »Und setzte Leichen zum Gelag«. Der Nachsatz Pounds zum Text (Worterläuterung 'Usura') fehlt bei Gerhardt.

Ein Übersetzungsversuch Pounds 14) (1944/45 entstanden aus Anlaß einer Rundfunksendung in deutscher Sprache) kann als Kuriosum betrachtet werden, nicht aber als eine ernstzunehmende Alternative zu den beiden vorliegenden Fassungen. Es ist eine Übertragung, die, mit Hilfe des Wörterbuches erarbeitet, Wort für Wort vorgeht und manchmal seltsame Stilblüten hervorbringt: »Mit Wucherhandel kommt Woll nicht im Markt / von Schaf sieht sich kein Nutzengewinn«.
Charles Olson: !The Praises! 16)

Die Lobgesänge sind das erste Gedicht des Freundes Charles Olson, das Gerhardt dem deutschen Publikum vorstellt. 17) Vierzehn Jahre später veröffentlicht Klaus Reichert eine weitere deutsche Version. 18)

Die Übersetzung Rainer M. Gerhardts folgt wort- und zeilengetreu dem amerikanischen Original. Sie versucht, die Zeile, den Zeilenbruch und die Anordnung der Worte in einer Zeile vom Original hinüber in die deutsche Fassung zu bringen. Die Fassung Reicherts versucht demgegenüber, eine deutsche Entsprechung des Olson'schen Verses zu finden. Das Ergebnis mag durch den folgenden Vergleich (der Anfang des Gedichts) illustriert sein:

Olson:

She who was burned more than half her body skipped out of death
Observing
that there are five solid figures, the Master
(or so Aetius reports, in the Placita)
concluded that
the Sphere of the Universe arose from
the dodecahedron

Gerhardt:

sie die verbrannt war mehr denn halb ihr körper erhob sich vom tode
beobachtend
dass dort fünf feste gestalten, der meister
(oder so Aetius berichtet, im placita)
erkannte dass
die sphäre des universums sich erhob vom
dodekaeder

Reichert:

Mehr als die hälfte ihres leibs verbrannt und sie entging dem tod
Als er herausfand
daß es fünf regelmäßige körper gibt, schloß der Meister
(oder solches berichtet Aetios, in der Placita)
daß
die Späre des Universums aus dem
dodekaeder entstand

Diese Gegenüberstellung zeigt deutlich, daß es Gerhardt primär um eine erste Annäherung an das Original ging, so daß auch hier Hans Wollschlägers bereits zititierte 'Entschuldigung' gilt, daß Erstübersetzungen nur ganz selten ein »volles Gelingen erreichen«.
Eine wichtige Rolle bei dieser Vermittlung moderner Weltliteratur spielte Gerhardts Frau Renate. Neben Übersetzungen aus dem Englischen besorgte sie vor allem die Übertragungen aus der französischsprachigen Literatur (u.a. Henri Michaux, Aime Cesaire, Antonin Artaud). Das folgende Beispiel soll ihre Vermittlungsarbeit vorstellen.

Saint-John Perse' Berceuse 19)

Auch hier muß festgestellt werden, daß der gute Wille oft nicht ausreicht, eine dem Original entsprechende Fassung in einer anderen Sprache zu schaffen. Das Werk des französischen Dichters prägte das Schreiben und Denken Rainer M. Gerhardts. Oder (wie bereits zitiert) Robert Creeley sagte: »He takes it back wall is Perse / front Pound: area within: area, which I shake him out of, eh? YOU WILL.«.
Um den Ton eines Dichters in der eigenen Sprache treffen zu können, muß man den Text auf allen seinen Ebenen kennen, muß sich sicher sein, eine korrekte Wiedergabe liefern zu können. Die Genauigkeit kommt dem Ergebnis zugute.
Bei unserem Beispiel kann von dieser Genauigkeit leider nicht die Rede sein. Einige wenige Beispiele mögen dies belegen:
- V 2: »le mil en fleurs« Hirse in Blüte (nicht: die Hirse blüht);»- V 7: »tant de« nicht berücksichtigt;»- V 11/12: gênait: Imperfekt (nicht Präsens);
- V 13: Singular (nicht Plural);
- V 21: pleurait: Imperfekt (nicht Präsens); etc. etc.
Nicht aufgeführt werden Bedeutungsnuancen und -verschiebungen, nicht entdeckte Anspielungen und Zitate. Als Ergebnis mag festgehalten werden, daß (zumindest in diesem Fall) Renate Gerhardt am Original 'vorbeiübersetzt' hat. Aber wahrscheinlich müssen wir Hugo von Hofmannsthal recht geben, der von den Dichtungen Saint-John Perses gesagt hat: »Ein Werk dieser Art ist schlechthin unübersetzbar. (...) Die Übersetzung kann in solchen Fällen keine andere Rolle spielen als die eines sehr genauen, gewissenhaften Referates. Trotzdem sollten, bedenkt man die Zeitumstände, die Bemühungen respektiert werden.«


Anmerkungen:

1) Kurt Heinrich Hansen: Nachwort zu: Gedichte aus der Neuen Welt. Amerikanische Lyrik seit 1910, München 1956, Seite 69.
2) Olson / Creeley: Correspondence, Vol. 4, a.a.O., Seite 13-14.
3) Robert Creeley in: Ekbert Faas (Ed.): Toward a New American Poetics: Essays and Interviews, Santa Barbara 1978, Seite 171.
4) Die erste Übersetzung des Ulysses weist erhebliche Mängel auf und kann nur als erste Annäherung an das Original verstanden werden. Arno Schmidt hat dies in seiner Auseinandersetzung mit dem Übersetzer Georg Goyert nachgewiesen. (Vgl. Arno Schmidt: Der Bogen des Odysseus, in: Bargfelder Ausgabe II;2, Zürich 1990, Seite 7-30) - Der Übersetzer des 'zweiten deutschen Ulysses', Hans Wollschläger, hat versucht, das Scheitern seines Vorgängers zu ergründen: »Unstrittig aber ist, daß ganz selten einer Erstübersetzung das volle Gelingen beschieden war (...). Das liegt einfach daran, daß den großen Kunstwerken das Verständnis nur langsam nachkommt; der Abstand, um den sie ihrer Zeit voraus sind, beträgt meist - man könnte da fast eine Gesetzmäßigkeit dingfest machen - ein halbes Jahrhundert.Ulysses« Frankfurt/M 1982, Seite 12).»
5) In: Ezra Pound: Personae-Masken, Zürich 1959, Seite 292-298 (Original und deutsche Übersetzung von Eva Hesse).
6) In: fragmente. internationale revue für moderne dichtung, Heft 1, a.a.O., Seite 28-32.
7) Hans-Joachim Zimmermann: Ezra Pound: E.P. Ode pour l'élection de son sépulchre, in: Klaus Lubbers (Hrsg.): Die amerikanische Lyrik. Von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1974, Seite 217 ff.
8) A.a.O., Seite 451.
9) Wie entscheidend der TON von Cantos, die ja 'Gesänge' sind, für Pound war, bezeugt sein Schwiegersohn Boris de Rachewiltz. In einem Fernsehfilm *) erzählt er, wie der greise Dichter in der Brunnenburg bei Meran an seinem Epos arbeitete: »Er war oben in seinem Zimmer und komponierte seine Cantos, murmelte und sang vor sich hin.« Und wer einmal gehört hat, wie er seine Cantos 'sang', für den ist philologische Texttreue nicht das oberste Gesetz.» *) Lawrence Pitkethley: Ezra Pound. Ein amerikanischer Odysseus, WDR 1986.
10) In: Ezra Pound: Usura-Cantos XLV und LI. Texte, Entwürfe und Fragmente. Herausgegeben und kommentiert von Eva Hesse, Zürich 1985.
11) Ezra Pound: Canto XLV, übertragen von Rainer M. Gerhardt, in: fragmente. blätter für freunde, Heft 6, a.a.O.
12) Ebda.
13) Pound: Usura-Cantos, a.a.O., Seite 17.
14) A.a.O., Seite 40-41.
15) A.a.O., Seite 40.
16) Charles Olsons: The Collected Poems, Berkeley etc., Cal., 1987, Seite 96-101.
17) Charles Olson: Die Lobgesänge, in: fragmente. eine internationale revue für moderne dichtung, Heft 1, a.a.O., Seite 12-17.
18) Charles Olson: Preisungen, in: ders.: Gedichte, Frankfurt/M 1965, Seite 20-25.
19) Saint-John Perse: Oeuvres complètes, Paris 1972, Seite 83-84.
20) Robert Creeley an Charles Olson, in: Olson / Creeley, Correspondence, Vol. IV, a.a.O., Seite 11.
21) Hugo von Hofmannsthal: Einige Worte als Vorrede zu Saint-John Perse »Anabasis« in: Saint-John Perse: Anabasis, München 1989, Seite 8.»