3.3.3 Dichtungen für Radio In Frankfurt, wo er in der Hauptabteilung Kulturelles Wort ein kleines Redakteurszimmer für sich hatte, traf er sich vor Weihnachten noch mit Hans Kettler, der seine Features für das >Aktuelle Wort< und gerade das Silvesterfeature mit Bernhard Minetti und Friedrich Schönfelder produzierte. Er las mit Zustimmung Rainer M. Gerhardts Manuskript über Ezra Pound und reichte es an Irmfried Wilimzig weiter. 1) So schreibt Stephan Reinhardt über Alfred Andersch, der seit dem 1.8.1948 >Abendstudio<-Leiter bei Radio Frankfurt und vom 1.4.1952 bis zum 31.3.1954 Leiter der Featureabteilung des NWDR war. Andersch hat in diesen Jahren und darüber hinaus vielen Autoren eine Verdienstmöglichkeit geschaffen, die es ihnen ermöglichte, in den mageren Jahren der Nachkriegszeit zu überleben. Auch Rainer M. Gerhardt war von dieser Verdienstmöglichkeit abhängig und er versuchte, sie zu nutzen, wie sein Freund Robert Creeley zu berichten weiß: "I realized that money continued a large problem, and his ability to
get some income from radio scripts and like work had been affected by his
increasing depression." 2)
Die Titel von vier Radioessays Gerhardts sind überliefert. Zwei der Sendungen befassten sich explizit mit Ezra Pound. Die Pound-Bibliographie von Gallup verzeichnet die Sendung: »Die Pisaner Gesänge. Eine Sendung von Rainer Maria Gerhardt, Manuskript, Frankfurt/Main, Hessischer Rundfunk 'Abendstudio', 25.3.1952. Cover-titel, 2-37 pp., 1 leaf. 29 cm. Script for broadcast, including selections translated by Gerhardt from Cantos LXXIV, LXXXIII and LXXXIV, as well as from Cantos XIII and XLV, How to Read, and Confucius. The Great Digest.« 3) Das Manuskript dieser Sendung scheint nicht erhalten geblieben zu sein, ebenso wie das eines siebzigminütigen Features mit dem Titel Ezra Pound, das der Nordwestdeutsche Rundfunk in Hamburg 1954 sendete 4). Inwieweit es inhaltliche Überschneidungen zwischen beiden Sendungen gab, läßt sich also nicht mehr feststellen. Das einzige mir vorliegende Rundfunkmanuskript ist die die maer von der musa nihilistica (Hessischer Rundfunk, Abendstudio; November 1952). Ein Sendetermin ist nicht feststellbar. Da es sich hier auch um eine 'Poetik' handelt, wird auf die inhaltlichen Aspekte im 6. Kapitel näher eingegangen. Formal gesehen handelt es sich um eine Anthologie: In die erörternden Passagen werden Texte eingeflochten, die das Gesagte illustrieren. Da es immer das Bestreben Gerhardts war, das Neue mit der Tradition
zu verknüpfen, bezieht er auch hier auf ein vorhandenes Werk, das
er als 'Vorbild' aufgreift und weiterführt. Es handelt sich um eine
kleine Schrift eines der wichtigsten Verleger des deutschen Expressionismus:
Alfred Richard Meyer, »die maer von der musa expressionistica«. 5) Das Werk hat den Untertitel »zugleich eine kleine quasi-literaturgeschichte mit über 130 praktischen beispielen« Wie Meyer versucht Gerhardt
eine 'Quasi-Literaturtheorie' für die fünfziger Jahre zu erstellen
und die für sie zutreffenden Beispiele einer neuen Poesie mitzuliefern.
Aber auch hier geht er, wie zu zeigen sein wird, über die Vorlage
hinaus.
Die Probleme der Poeten waren zu allen Zeiten die gleichen. Zu allen
Zeiten finden wir die lebendige Kraft der Dichtung und die Einfallslosigkeit
der Metaphysiker, die Stupidität der Romantik mit der Haltlosigkeit
der Nachahmer. Zu allen Zeiten ringt der Poet, oder sollte es tun, um Klarheit,
um Genauigkeit von Ausdruck und Sprache. 6)
"Drei Jahre hindurch, ohne Rücksicht auf seine Zeit,
"Heute kommen sich verschiedene schwachköpfige Kreaturen als nationale
Helden vor, wenn sie sich von neuer Dichtung kalauernd abwenden." 8)
Die Mär von der Musa nihilistica spukt in den Köpfen sehr vieler Leute. Es ist bedauerlich, dass eine solche Vorstellung überhaupt entstehen konnte, ist es doch ein Zeichen der allgemeinen Unsicherheit und Unwissenheit in Bezug auf Poesie, die sich hier manifestiert. Man lässt lieber den Harmlosen aber doch so netten poetischen Ergüssen den Raum als einer kraftvollen und schonungslosen Kritik zeitgenössischer oder vorangegangener Dichter. Gewisse Zeitungsschreiber liessen in der letzten Zeit die Katze aus dem Sack: In der allgemeinen Diskussion wurden unmerklich die Grundsätze ausgewechselt, und wo gestern gewisse Verbindlichkeiten für Dichtungen und Dichter anerkannt wurden, oder eine Poesie Engageé verteidigt, lesen wir heute von der Gleichung: Lyrik = Nihilismus, lyrisch = nihilistisch. 10) Der Nihilismus ist Gerhardts Sache nicht, sein Anspruch an die Literatur
geht weiter: Ohne Engagement bleibt die Poesie auf ewig in ihrem selbstgebauten
Elfenbeinturm eingesperrt, ist sinn- und nutzlos.
KLAUS BREMER, landestheater Darmstadt, und RAINER M. GERHARDT haben
eine dichtungsimprovisation (ähnlich der jazzimprovisationen) aufgenommen.
Die Schallplatte, "poeme collectif" demonstrierend, ist durch den "verlag
der fragmente" zu beziehen. 11)
Eine, weder im Manuskript noch in einer Aufzeichnung vorhandene, aber doch vom Autor selbst angekündigte Sendung verzeichnet das Verlagsprospekt aus dem Jahre 1954: Als Heft 15 der fragmente-Taschenbücher sollte erscheinen: porque sabes. weil du weißt, daß ich dich immer liebte. dichtung für radio. Auch hier - wie in vielen anderen Fällen - sind wir auf eine Spekulation angewiesen. Nähere Beschreibungen müssen also unterbleiben. Eines aber darf festgehalten werden: Rainer M. Gerhardt hat, wie (zeitlich) neben ihm nur Günter Eich, versucht, das neue Medium Radio für die Sache der Literatur, die er zu seiner Sache machte, zu nutzen. Ein in diesem Zusammenhang interessantes Projekt kündigt das mittlerweise
so häufig zitierte Verlagsprospekt an: In der Taschenbuchreihe der
'galerie ubu' wollte Gerhardt einen Band über Charly Chaplin herausgeben.
Das Spektrum des Dichters geht über das Medium der Schrift und der
(gesprochenen!) Sprache hinaus in die Welt des bewegten Bildes. Die Konsequenz,
die hier sichtbar wird, war ihrer Zeit voraus. Bei keinem anderen deutschen
Dichter der Zeit wäre ein solches Spektrum denkbar gewesen. Andere
kamen nicht auf den Gedanken, die vielfältigen Möglichkeiten
aller zur Verfügung stehenden Medien zu nützen. In diesem Sinne
ist Rainer M. Gerhardt ein Dichter und Vermittler, dessen 'Betätigungsfeld'
auch heute noch so weit gespannt ist, daß es von den meisten Schriftstellern
der Zeit nicht ausgeschritten werden kann. Die Spekulation, welche Möglichkeiten
er im Bereich des Fernsehens hätte nutzen können und wollen,
bleibt unausgeführt.
1) Stephan Reinhardt: Alfred Andersch. Eine Biographie, Zürich 1990, Seite 196. 2) Robert Creeley: Rainer Gerhardt. A Note, a.a.O., Seite 5. 3) Donald Gallup: Ezra Pound. A Bibliography, Charlottesville 1983, Seite 381. 4) The Pound Newsletter, a.a.O., Seite 32. 5) Alfred Richard Meyer: die maer von der musa expressionistica, Düsseldorf-Kaiserswerth 1948. 6) Gerhardt, musa nihilistica, a.a.O., Seite 2-3. 7) A.a.O., Seite 3. 8) A.a.O., Seite 9. 9) A.a.O., Seite 12. 10) A.a.O., Seite 34. 11) fragmente, Heft 2, a.a.O., 3. Umschlagseite. |