3.3.2  umkreisung

Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, alle Gedichte Rainer Maria Gerhardts einzeln und ausführlich zu würdigen. In diesem Kapitel sollen die Texte aus dem zweiten Gedichtband des Autors (soweit sie nicht in einen anderen Zusammenhang gehören) betrachtet werden, die eine bestimmte Art des lyrischen Sprechens bei Rainer M. Gerhardt verdeutlichen können. Hinzukommen Gedichte aus dem Nachlaß und eins aus der Rundfunksendung die maer von der musa nihilistica.

Es ist auffallend, daß Gerhardt nicht nur in seinen Briefen, nicht nur in seiner verlegerischen Arbeit versucht, Verbindungen zu knüpfen zwischen vielen verschiedenen Traditionen, Kulturen und Literaturen. Auch seine Gedichte versuchen dies in vielfältigen Formen. Auf den bedeutendsten Versuch in dieser Hinsicht wird in Kapitel 5 näher eingegangen werden.

Bereits 1948 beginnt ein solcher Versuch einer poetischen Kommunikation. Im ersten Heft des zweiten Jahrgangs des von Joachim Moras und Hans Paeschke herausgegebenen Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken veröffentlichte Ernst Robert Curtius seine Übersetzung der Dichtung eines unbekannten Verfassers aus dem 2. oder 4. Jhdt. n. Chr. Pervigilium Veneris - Die Nachtfeier der Venus.

Das ausgehende Altertum hat noch zauberhafte Schöpfungen hervorgebracht (...) wie das Pervigilium Veneris eines unbekannten Römers. Es erhebt sich aus dem Schutt der Jahrhunderte wie die drei schlanken Säulen des Dioskurentempels auf Piranesis Veduten das Campo vaccino überragen. Dichtungen von so knospender Schönheit konnten in den verrufensten Zeiten des Verfalls aufblühen - und unsere gedankenlose Geschichtsbetrachtung enthüllt sich wieder in ihrer Fragwürdigkeit. 1)
Im gleichen Jahr schreibt Rainer M. Gerhardt sein Gedicht 'variationen' 2), mit dem er vier Jahre später seinen zweiten Gedichtband einleitet. Dieses Curtius gewidmete Gedicht variiert in drei Teilen Verse aus der alten Vorlage, gruppiert sie neu, spielt mit ihnen. Versmaß und Rhythmus bleiben erhalten. Das Geschehen der Nachtfeier der Venus wird konzentriert auf den Rahmen und auf wenige Stationen des Ablaufs. So entsteht ein Lobpreis der Liebe von hoher Intensität. Der Refrain des alten Textes wird zum Manifest, aufgehoben im ersten Teil der Variation:

morgen liebe wer geliebt hat morgen wer noch nie geliebt
lenz erneut sich lenz ertönet lenz ist die geburt der welt
morgen liebe wer geliebt hat morgen wer noch nie geliebt
3)
Das Prinzip der Wiederholung einzelner Bilder (die Mädchen, der schreitende Amor, die Nacktheit, der schwüle Abend, etc.) verstärkt diese Intensität. Diese Variationen der alten Bilder sind (auch) zu verstehen als eine Verbeugung vor dem bedeutenden Vermittler abendländischer Tradition Ernst Robert Curtius. Die Vermutung, daß dieses Gedicht Anlaß für Curtius' Besprechung des ersten Hefts der fragmente war, wie Helmut Salzinger meint 4), muß, trotz aller dafür sprechenden Gründe, Spekulation bleiben. Immerhin führt es uns den ersten zarten Ansatz eines poetischen Gespräches über Tradition und die Erneuerung von Tradition vor, den es nach Ende des Krieges gab.

In Heft 2 der fragmente wird eine Schallplatte angekündigt, die das auch in der Radiosendung die maer von der musa nihilistica enthaltene Gedicht poeme collectif als 'dichtungs- improvisation' präsentieren sollte. Es handelt sich hier um eine Gemeinschaftsarbeit von Rainer M. Gerhardt und Klaus Bremer. Bei diesem sehr intensiven Gespräch ist es nicht mehr möglich, die Gesprächsanteile den beiden Gesprächspartnern eindeutig zuzuordnen. Sie sind erkennbar, da sie voneinander abgesetzt sind. Eine Vermutung allerdings ist möglich. Aufgrund der unterschiedlichen Art und Weise des lyrischen Sprechens kann man annehmen, daß die Textteile, die mit dem Zeilenanfang beginnen, Gerhardt zuzuordnen sind. Bei den eingerückten Teilen kann man Bremer als Autor vermuten.

wenn du hinabschaust ins schweigen
siehst du keine freunde
wenn du deinen blick in den raum erhebst
hörst du kein echo
 

          zehn leere reihen
          von stühlen leer
          zehn leere reihen
          von blumen leer
          zehn leere reihen
          von
5)
Diese Bilder werden vom Partner aufgenommen, weitergeführt, 'beantwortet'. Der eine spricht: »...ein sanfter laut erhebt sich / dort fern vom gebirge / her zu uns«, der andere antwortet: »halt dich am ton / der den berg umweht / halt dich am ton / und das lied wird heraufkommen aus den grundwassern des elends / ...« Es geht Gerhardt bei allen seinen Versuchen um Gemeinschaft. Er will den Weg aus der selbstgewählten Isolation der Dichter finden; er sucht den Abschied von der Benn'schen 'musa nihilistica'. Im Vorspruch zu dem poeme collectif erläutert er seine Absicht:

Publikum und Kritiker sind gewöhnt, zu erzählen oder erzählt zu bekommen, dass bei fortschreitender Differenzierung der Mittel die Isolation des Poeten eine immer vollständigere wäre. Die an der Sache arbeitenden Poeten sind aber der Meinung, dass fortschreitende Differenzierung der Mittel nicht Hindernis auf dem Weg zum Verständnis und zur Vorbereitung moderner Dichtung sein braucht, gelingt es, wie die Arbeitshypothese sagt, ein unmittelbares poetisches Gespräch zweier oder mehrerer Poeten zu erreichen. Das Poème collectif ist der Überzeugung, dass das unmittelbare Verhältnis [unleserlich] zu unzähligen Einzelnen entspricht. Womit ein grosser Personenkreis in das Geschehen neuer Dichtung einbezogen wäre. 7)
Das poetische Gespräch kann allerdings nicht gelingen, wenn die Poeten nicht Gerhardts Warnung beachten, die er in dem vorliegenden 'Gespräch' äußert:

sie haben grosse gedichte geschrieben
sie haben ein meer von gedichten geschrieben
sie haben einen wald geschrieben
und keine wahrheit
8)
Die Wahrheit ist das Kriterium. Fehlen Warheit und Aufrichtigkeit, ist kein Gespräch möglich, wie uns das Verhalten Gottfried Benns in seinem 'Gespräch' mit Gerhardt gezeigt hat (vgl. 3.1.2).

Über den Rahmen eines poetischen Gesprächs hinaus geht ein anderes Gedicht Gerhardts, das Jean Arp gewidmete umkreisung. Im Verlag der Fragmente sollte das Gesamtwerk Arps erscheinen; es war das kostspieligste und gewagteste Projekt.
In immer neuer Anordnung 'umkreisen' großartige Bilder, die allerdings nicht von allen Lesern, etwa Hellmut de Haas 9), verstanden wurden, das eine Problem der Kreativität: »es hat die hand bewegt eine musik zu schreiben«.
Die sehr enge und sehr intensive Verknüpfung der Bilder macht es fast unmöglich, aus diesem Gedicht zu zitieren. Aus diesem Grund wird es im Anhang vollständig wiedergegeben. Das 'Netz aus Feuer', ein anschauliches und einprägsames Bild für das Kunstwerk, vermag bedeutende Wirkungen auszulösen: Es »macht die nacht schweigen« es »läßt die trompete klirren« es »macht den bogen schwirren« es »macht den schlaf wachen« Der zweite Teil des Gedichtes beendet die 'Umkreisung' des 'Gegenstandes' und erfaßt in einem apokalyptischen Bild die Situation:
am nachmittag des zwölften september wurde die
sonne rot
die geschichtsschreiber haben nichts anderes zu
berichten
die riegel waren geöffnet
man sah sehr große tiere durch die stadt gehen
12)
Die Bilder erinnern an Bilder aus Hans Arps Die Wolkenpumpe (1920) oder auch aus seinem Poem Das Tagesgerippe (1930). Es sind die 'Schreckschüsse der Dadaisten' 13), die Gerhardt hier aufnimmt, verstärkt und erneut an die Leser weitergibt. Obwohl erst zwanzig bzw. dreißig Jahre vergangen waren, sind Dadaismus und Expressionismus bereits Geschichte und damit für viele unwirksam. In der Nazizeit als 'entartete Kunst' verdammt, findet diese jüngste Tradition auch im Nachkriegsdeutschland nicht den Platz, der ihr gebührt. In Rainer M. Gerhardt findet sie jemanden, der ihr 'die Riegel öffnet', der versucht, ihre Ergebnisse aufzunehmen und weiterzuführen.

Auf eine Gefahr, die in diesen poetischen Kommunikations- und Vermittlungsversuchen lauert, hat Peter Härtling in seinem 'Rettungsversuch' hingewiesen: »Was verloren und ruiniert schien, wird mit jungem Pathos angerufen, die Sätze umklammern Epochen und Kontinente.« Die Kraft und die Energie, die hierzu nötig sind, besaß Gerhardt nicht in dem Maße wie sein Vorbild und Meister Ezra Pound. So erscheint das Gedicht valse triste auf recht tönernen Füßen. Verschiedene Sprachen reden mit- und durcheinander, und der Leser, wenn er mit Mühe die vielen Zitate, Anspielungen und Verweise entziffert hat, was allerdings nicht immer gelingt, bleibt verwirrt zurück. Daß dieses zeitweilige Nichtverstehen kein Qualitätskriterium ist, braucht nicht betont zu werden. Daß dies kein »polyglottes Brimborium« ist, wie Helmut de Haas meint, ist mehr als selbstverständlich. Peter Härtling spricht von Bewußtsein:
Gerhardt verfiel, die Destruktion auf sich nehmend, dem polyglotten Bewußtsein der europäischen Poesie; in einigen seiner Gedichte reden Griechisch, Latein, Deutsch, in anderen Französisch und Englisch durcheinander. Die schwellende Müdigkeit des alten Kontinents offenbart sich ihm in reminiszierenden Fluchten. 16)

So etwa in dem Gedicht meditation, das nicht nur inhaltliche Rückbezüge zur europäischen Tradition aufweist, sondern auch formale, indem es Formen der griechischen Tragödie aufnimmt (so die Funktion des Chors) und weiterführt. Auch hier ist ein Wort Härtlings angebracht:

Manchmal erinnert mich der strenge Lauf seiner Verse an Stefan George, nur schrieb George niemals auf dem Grunde des Sarkasmus, wie es Gerhardt tat, ein Priester der seine Gemeinde über die Taten der Priester bitter aufklärt. 17)
Am Ende des Gedichts steht eine Aufforderung, eine Mahnung:

der meister hat erstiegen wohl den pfad
aus leid und leben rettend grab und graus
von anfang bis zum ende roth gekerbt
betritt ihn ernst und unverdrossen kehr empor
18)
Diese Reminiszenzen an vergangene Kulturen, die Aufnahme alter Traditionen (inhaltlich und formal) werden häufig verknüpft mit Beschreibung und Analyse der Gegenwart, so etwa in dem frühen Gedicht gesang der jünglinge im feuerofen. Dieser aus dem dritten Kapitel des Buches Daniel stammende Gesang ist Preislied auf Jahwe, den rettenden Gott. Diesem Preis wird gegenübergestellt die Situation des gefangenen Volkes in Babylon:

es schabt der ratte fuss da
braun das gestein in der sonne
in fremden armen die dirnen
und die schreie der nötigung
hallen durch die verdorbene stadt
19)
Wie eine Beschreibung Nachkriegsdeutschland wirkt die letzte Strophe des Gedichts:

verwesung treibt uns dahin
verfallene strassen
mauern gewebt durch vergänglichkeit
städte gebaut in vergänglichkeit
wer soll die stunden noch zählen unter den sternen
wer trägt noch die frucht vom dürren feld
verfallene strassen
nirgends nach nirgends
strassen nach nirgends
20)
Und dem Dichter (»sonne im antlitzt und wind im haar« bleibt nur die immer wiederholte Frage: »was habe ich gegen dieses aufzurichten«) Die Bilder für den Zustand der Gegenwart findet er in der Vergangenheit. Die alten Bilder sind furchterregend, zum Teil verbraucht und wenig hilfreich, um Trost zu spenden. Doch auch die neuen Töne vermögen nicht weiterzuführen, sind ebenso erschreckend:

die alte weise schreckt uns
alte töne verbraucht zähe lebendig
neue töne falb und grausam
mischen sich ziehen und ranken sich
durch das wüste land das abend land
22)
In diesem Gedicht, das den bezeichnenden Titel 'vermächtnis' trägt, beklagt Gerhardt die Unfähigkeit, den 'alten Ton' zu erkennen und zu verstehen. Nicht einmal diejenigen, deren Amt es ist, sind hierzu in der Lage. Sie, die Professionellen, stehen nicht auf und verschaffen dem Vers seinen ihm gebührenden Platz:

wer frägt uns ob dieser alte ton
von niemand gehört in jedermanns schweigen
ob dieser uralte ton aufsteht
nicht nur in den hirnen der viel belesenen
der literaturprofessoren und ihrer assistenten
der zeitungskritiker und -leser, und der
zahlreichen renzensenten, deren brot dies ist
23)

Auch hier finden wir, wie so häufig, den seherischen Ton, die Vorausdeutung und Vorausahnung: »wer frägt uns ob dieser alte ton / (...) / aufsteht in einem oder in vielen / die da kommen oder kommen werden oder / gekommen sind, heute noch unbekannt oder / schon wieder vergessen...«.
Noch nicht einmal ein halbes Jahrhundert nachdem diese Verse geschrieben wurden, sind sie vergessen. Doch es scheinen sich Veränderungen anzubahnen. Das 'Vermächtnis' Gerhardts, die Verknüpfung von Tradition und Moderne, kann heute besser verstanden werden als zu seiner Zeit. 25)

Doch nicht nur Schwermut und Trauer kennzeichnen die Gedichte. Manchmal gelingen Gerhardt Verse von einer Leichtigkeit, die überrascht und fasziniert. So in seinem vielleicht schönsten Gedicht cegestes (s. Anhang):

cegestes cegestes auf der nackten haut
ist dir eine sehr schwierige figur geschrieben
die kleine rose möchte ein märchen erzählen
das kleine pferd möchte ein wenig spielen
26)
Doch auch hier, in diesem kindhaft-schwebenden Ton finden sich Bilder, die verstörend wirken (z.B. die 'negative Nacht'). Der letzte Vers lautet: »ich kann nur in ein weit entferntes gesicht schauen«. Doch die Unschuld der Vorstellung bleibt im Gedächtnis des Lesers haften.»Auch in dem seiner Frau Renate gewidmeten Gedicht 'fragmente' (s. Anhang) findet sich diese Gleichzeitigkeit von Trauer auf der einen und Hoffnung und Gelöstheit auf der anderen Seite. Der programmatische Titel weist auf die inhaltliche und formale Komposition des Textes hin: Bilder, Anrufungen, Begebenheiten, Namen und Zitate werden als Fragmente einer größeren Geschichte zusammengefügt, montiert. Die Widmung mag die Bedeutsamkeit des Textes unterstreichen.
Es ist ein Liebesgedicht, gewidmet der Frau, redend vom 'Bruder'. Gemeint ist der mehrfach im Gedicht angerufene römische Dichter Gaius Valerius Catullus (84 - 54 v. Chr.). Ein düsteres, traurigmachendes Bild eröffnet den Text: »der wind bricht auf diese nacht / quirrt weint«. Der Sprecher hat die Nacht, das Dunkel erblickt. Dieses Dunkel der Seele, hervorgerufen durch den Fortgang des Bruders, versinnbildlicht in der Nacht, raubt ihm die Ruhe, den Schlaf:
habe die nacht gesehen
                 kann nicht schlafen
     der bruder ist fortgegangen
(...)
ich habe fußstapfen gesehen
                                in frischer erde
29)
Viel Zeit ist nicht verstrichen, seit der nun angerufene 'Bruder' Catullus fortgegangen ist. Der Sprecher steht nun allein in seinem Bemühen. Und wenn wir hier die Situation des Dichters berücksichtigen, so haben wir es zweifelsfrei mit einer Selbstaussage zu tun: Die Verbündeten, die 'Brüder', mit denen zusammen der Sprecher in einem Hause wohnt (Tradition = Raum) sind nicht da, »keine kraft / wenn nicht diese: eine geschichte von dir und mir«). Es gibt nichts zu sehen, es gibt nichts zu vermelden, es gibt nichts zu hören, wenn der Bezug zu dem nicht vorhanden ist, ohne den man nicht leben kann: den Bruder.

hat kein auge sich aufgetan
hat kein vogel berichtet
hat der wind nicht geschrien
31)

Nichts ist möglich ohne die Kraft, die der Dichter und, so muß hier einmal gesagt werden, auch der Leser aus dem schöpfen, was hinter uns liegt. Es gilt eine »eine passage / oder liebe / metaphysik«. Wenn wir die Ausführungen Gerhardts zu Curtius' Buch in der rundschau der fragmente bedenken, können wir vielleicht ermessen, welche Bedeutung der lateinische Dichter neben Ovid und Propertius für ihn gehabt hat: Dieses römische 'Dreigestirn' steht bei ihm für die Linie, die »ihre wirkung zeitigt (...) durch sich selbst, als kunstgebilde, als ding der dichtung«. Und hinter dieser Dichtung
kann durchaus die Vision einer Welt stehen, die ihre kulturellen und sonstigen Gegensätze zu überwinden bereit ist (...). Eines von Gerhardts schönsten Gedichten endet mit den Zeilen: "die frühen Könige sind nicht vergessen / das reich im gleichgewicht unter könig wan." König Wan ist eine von Confucius überlieferte Idealgestalt, die eben dies verkörpert, die Ausgeglichenheit der gesellschaftlichen Kräfte im Reich. Und dies ausgerechnet beschworen nach den Kriegswirren des zwanzigsten Jahrhunderts. 34)

Es ist in diesem Kapitel zunächst einmal um den Inhalt resp. die Richtung der Gerhardt'schen Lyrik gegangen. Daß diese alles vorhandene Material (Tradition und Gegenwart, Individualität und Gemeinschaft, etc. etc.) einbeziehenden Inhalte nach neuen Formen verlangen, ist selbstverständlich. Um Wiederholungen zu vermeiden, weise ich hier auf das Kapitel 6.2 hin, daß diesen Aspekt näher betrachten wird. Weitere Fragen der Form werden bei der Interpretation von Gerhardts brief an Creeley und Olson zur Sprache kommen (Kapitel 5.1).

Da es über Gerhardts Vermittlerarbeit einiges, über seine Dichtungen aber wenig zu lesen gibt, muß an dieser Stelle auf die bereits erwähnte und zitierte Polemik von Helmut de Haas näher eingegangen werden. Es ist die einzige seinerzeit erschienene Rezension der umkreisung.
Im ersten Abschnitt geht der Schreiber auf Curtius' Rezension des ersten Heftes der fragmente ein (vgl. 3.4.2) und wundert sich über dessen Urteil, das er nicht teilen kann. Ja, er stellt sogar die wirkende Existenz dieser Zeitschrift in Frage.
In fünf weiteren Abschnitten versucht de Haas eine Beschreibung der literarischen Situation, bei der er über Vermutungen und Fehleinschätzungen nicht hinauskommt. Er zitiert zu Beginn Curtius: »Die Bekanntschaft mit Rilke und Eliot genügt nicht als Befähigungsausweis. Auch das existentielle Wimmern zieht nicht mehr.« Der Leser muß dieses 'existentielle Wimmern' verständlicherweise auf Gerhardts Gedichte beziehen, zumal wenn de Haas vier Sätze später sagt: »Curtius, auf den Erweis von Leistung (und Kenntnissen) pochend, waren die poetischen Ergebnisse der Fragmentarier 1951 noch unbekannt.« Wenn man das erste Heft der fragmente als Leistungs- und Kenntnisnachweis einer Gruppe junger Dichter liest, so wie es Curtius tat, so bleibt dieser Satz nicht nur unverständlich, sondern wird zu einer üblen Unterstellung. Nachdem der Polemiker im Anschluß daran Pound gegen Eliot ausgespielt hat, kommt er zu dem für den Kenner der literarischen Szene zwischen 1945 und 1950 etwas überraschenden Schluß, daß es 1951 nicht mehr nötig gewesen sei, über den 'großen Teich' nach Amerika zu schauen, wo es doch hier bereits Männer wie Hans Egon Holthusen (»übte auf Eliots und Audens Piano, was er in Duino nicht hatte üben können«) und Gottfried Benn mit seiner 'Phase II' gab:
»Die jungen Experimentatoren brauchten nicht mehr nach London und Übersee zu blicken. Sie hatten einen neuen Faszinationspunkt mitten im troglodytischen Berlin der Nachkriegsjahre gefunden. Unter Benns Flügeln barg sich eine ganze Schar von jungen Lyrikern und wärmte die unflüggen Strophen. Gespannte Jahre! Wieviel Mischungen! Wieviel wundervolle Aneignung und wieviel Mißverständnis, das fruchtbar werden konnte!«. Sieht man einmal von dem von Alfred Kerr entlehnten Stil ab (also auch hier keine Eigenleistung), so fällt vor allem der Blick auf, den de Haas auf die moderne anglo-amerikanische Literatur wirft. Ihm reicht es, wenn einige wenige Ausgewählte des eigenen Volkes sich etwas angeeignet haben und es dann in väterlicher Fürsorge an ihre 'Söhne' weitergeben. Aber die jungen Dichter der Nachkriegszeit wollten den direkten Weg gehen. Vollends unglaubwürdig macht sich der Rezensent, wenn er die doch recht zweifelhaften Produkte der Naturlyrik (vgl. 2.2.2) nach 1945 preist: »Einige der schönsten Gedichte der Jahrhundertmitte stammen von ihnen. Sie sind auf eine undefinierbare Weise Kollektivleistung.« Nachdem de Haas dem Leser dann ausführlich mitgeteilt hat, unter welchen äußeren Bedingungen (Zugfahrt) er Gerhardts Gedichte gelesen hat, wendet er sich im letzten Drittel (!) seiner Rezension seinem eigentlichen Gegenstand zu, nicht ohne vorher noch einen besonders dümmlichen Kalauer von sich zu geben: »Rainer M. (M? etwa Margarethe oder Mathilde oder viel schlimmer?) übt sich im polyglotten Gedicht. Die eine Zunge gibt es nicht her.«. Die Methode ist verhältnismäßig einfach: Er pickt sich hier und dort einige Verse heraus und macht sich über sie lustig, ohne daß er vorher auch nur andeutungsweise den Versuch gemacht hat, sie zu verstehen.
So greift er (zum Beispiel) aus dem gedicht 'valse triste' zwei zeilen heraus (»da kam das meer und überflutete die ufer die frau aber machte sich zu einem schiff und schwamm auf ihm«) und schließt folgende 'Analyse' an: »Der Ton: stark, rein. Hätte Gerhardt das polyglotte Brimborium weggelassen, auf die Allotria (wörtlich) verzichtet, wäre es ein hübsches Gedicht geblieben, kein wesentliches zwar.« Zwar finden sich in dem Gedicht Zitate in lateinischer und griechischer Sprache, das Beispiel jedoch, das de Haas zitiert, vermag zumindest den zweiten Teil seines Urteils nicht zu stützen. Wenn es dem Rezensenten nicht gelingt, fremdsprachliche Teile in das Ganze einzugliedern, so ist das noch lange kein Unfug, keine Dummkeit (so der Fremdwörter-Duden zu 'Allotria'). Es wirft höchstens ein Licht auf die geistigen Fähigkeiten des Schreibers.
Im zwölften Abschnitt seiner Polemik wird das auf einer mehr als unseriösen Lektüre beruhende Urteil zusammengefaßt:

»Knäblein-Lyrik, Zeltorientierung. Spätzeitkitsch. Umschreibung meinerseits: pêlemêle, Psychistensauce, anarchisch heraufgespült. Kennwort: Auch Ariadne trank Coca Cola auf Lesbos. Sagte da einer Theseus, Dionysos, Naxos? Er muß sich irren: jetzt gehört alles durcheinander geschüttelt! Jetzt wird alles verfeuert! Jetzt hat man studiert, um nur ja viel Bildung vergammeln zu können. Wozu? Um Avantgardismus nach rückwärts machen zu können. Um den Ezra Pound zu entdecken, wie er mit Vierzehn war. Sinnige Umkreisung der zwanziger Jahre! Nicht ohne Unschuld.« Daß dieser Text erst zwei Jahre nach Erscheinen der umkreisung und kurz vor Gerhardts Tod erschien, soll hier nicht zu Spekulationen Anlaß geben. Eine ernsthafte Beschäftigung mit seiner Lyrik hat er sicherlich auf einige Zeit behindert.

Damit dieses Verdammungsurteil nicht am Ende stehenbleibt, sei noch einmal einer der Wiederentdecker Gerhardts, Peter Härtling, zitiert, der nicht nur bewundernd, sondern auch kritisch die Lyrik des jungen Dichters würdigt:

Bei (...) ihm spricht das »Gedächtnis der Geschichte« seine Zeilen, die Inseln der Bildung, der Überlieferung tauchen auf aus dem Ozean der Zerstörungswut und erklä_ren sich als Fragmente der Wahrheit. Was verloren und ruiniert schien, wird mit jungem Pathos angerufen, die Sätze umklammern Epochen und Kont»nente. Der Rausch, den die Scherbenwelt Ezra Pounds verströmt,  findet sich bei Gerhardt dünntönender wieder. Als die deutschen Lyriker noch die Erfahrungen Rilkes, des Expressionismus und des Surrealismus nach- und umschrieben, war ihnen Gerhardt schon um Schritte voraus. Er ahmte das Zukünftige nach. 44)


Anmerkungen:

1) Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, a.a.O., Seite 403.
2) Gerhardt: umkreisung, a.a.O., Seite 5-6.
3) A.a.O., Seite 5.
4) Helmut Salzinger: Der Fall Gerhardt oder Geschichte einer Wirkung, in: Hyner/Salzinger: Leben wir eben ein wenig weiter, a.a.O., Seite 36: »Diesem Vorgang läßt sich entnehmen, daß Gerhardt, entsprechend den Gepflogenheiten, dies Gedicht im Manuskript Curtius zugesandt hat und dieser, als er 1951 die Fragmente höchst lobend besprach, Gerhardt mithin kannte. Dies bleibt allerdings eine Vermutung, zunmal Curtius diesen Sachverhalt gleich zu Beginn seiner Rezension und ohne daß irgendwer dergleichen behauptet hatte, ganz entschieden leugnete.«
5) Gerhardt: musa nihilistica, a.a.O., Seite 43-44.
6) A.a.O., Seite 45.
7) A.a.O., Seite 43.
8) A.a.O., Seite 45.
9) Helmuth de Haas: Späte Umkreisung der zwanziger Jahre. Eine Polemik, In: Die Neue Zeitung vom 17.1.1954. - Er kalauert: »Gerhardt dichtet: "ich habe ein rotes auge aufleuchten sehen." Das muß das Schlußlicht eines verpaßten Zuges gewesen sein.« 'Analysen' dieser Art bedürfen keines Kom_mentars.»
10) Gerhardt: umkreisung, a.a.O., Seite 32.
11) Ebda.
12) A.a.O., Seite 33.
13) Vgl. Gerhardt, Rundschau, a.a.O., Seite 4: »Die schreckschüsse der dadaisten sind noch nicht verhallt, und eine furchtbare wahrheit steigt herauf...«»
14) Peter Härtling: Rainer Maria Gerhardt: "Umkreisung", in: ders.: Vergessene Bücher, Karlsruhe 1983, Seite 239.
15) de Haas, a.a.O.
16) Härtling, a.a.O., Seite 239.
17) Ebda.
18) Gerhardt, umkreisung, a.a.O., Seite 24.
19) Rainer M. Gerhardt: gesang der jünglinge im feuerofen, in: fragmente. blätter für freunde. Heft 1, o.O., o.J.
20) Ebda.
21) Ebda.
22) Rainer M. Gerhardt: vermächtnis, in: fagmente. blätter für freunde. Heft 2, a.a.O.
23) Ebda.
24) Ebda.
25) Vgl. die entsprechenden Ausführungen in der Einleitung.
26) Gerhardt, umkreisung, a.a.O., Seite 31.
27) Ebda.
28) Rainer M. Gerhardt: fragmente, in: fragmente. internationale revue für moderne dichtung, Heft 2, a.a.O., Seite 50.
29) Ebda.
30) Ebda.
31) Ebda.
32) Ebda.
33) Gerhardt: rundschau, a.a.O., Seite 3.
34) Salzinger, a.a.O., Seite 44.
35) Ernst Robert Curtius über die fragmente, zitiert nach H. de Haas, a.a.O.
36) de Haas, a.a.O.
37) Ebda.
38) Ebda.
39) Ebda.
40) Ebda.
41) Gerhardt: umkreisung, a.a.O., Seite 18.
42) de Haas, a.a.O.
43) Ebda.
44) Härtling, a.a.O., Seite 238-239.