3.3 Der Dichter : der tod des Hamlet Wenn über Rainer M. Gerhardt geprochen wird, dann wird vor allem seine Rolle als Vermittler hervorgehoben. Darüber wird leider allzu häufig vergessen, daß Gerhardt Gedichte schrieb, die eine genauere Betrachtung verdienen. Ein Autor seines Verlages, Wolfgang Weyrauch, schrieb: Ich kannte einmal, um 1950 herum, einen jungen Mann, Rainer M. Gerhardt, der Verse schrieb. Er war so voll davon, daß er sterben mußte. 1) Knapp zwei Dutzend Gedichte umfaßt das bekanntgewordene lyrische Werk - ein schmales und schwieriges Werk, das keine nennenswerte Wirkung gehabt hat. Die folgenden Ausführungen sollen das Besondere im dichterischen Werk Rainer Maria Gerhardts aufzeigen, so wie es in seinen beiden Gedichtbänden, den einzeln veröffentlichten Gedichten und den Arbeiten für den Rundfunk, die von ihm selbst 'Dichtungen für Radio' genannt wurden, aufscheint. Dabei soll auch ein Bezug zur zeitgenössischen deutschen Dichtung (vgl. 2.2.2) hergestellt werden. Die spärlichen Äußerungen, die es zur Lyrik Gerhardts gibt, können kaum weiterhelfen, da sie entweder zu dürftig, zu wenig auf den einzelnen Text eingehend oder nur polemisch sind. Die einzige umfassendere, sehr negative zeitgenössische Rezension 2) wird berücksichtigt werden. Bevor auf den ersten Gedichtband der tod des hamlet eingegangen wird, sei Robert Creeley zitiert, der zu Gerhardts Gedichten folgende Worte fand: To write of his poems is for me most difficult, because I could not read them simply in German, and, beyond that, I had only a partial sense (very much so then) of what specific difficulties and possibilities German poetry had as context. He said, once, the idyll is our weakness. Trakl was close to his own terms of imagination. Benn's technical facility he respected, and he found, also accuracy in the deep irony with which Benn characterized the world. But I was certainly aware that in his last book, umkreisung (1952), all the care he had given to his translations of men as Pound, and Olson, and Williams, was beginning to find root in his own work. 3) 3.3.1 der tod des hamlet Im August 1950 erscheint in sechshundert Exemplaren in Karlsruhe von
Paul Renner in Futura gesetzt und von Julius Engelberg gedruckt im 'verlag
der gruppe der fragmente' der gedichtzyklus der tod des hamlet von Rainer
M. Gerhardt. Fünfundzwanzig Exemplare wurden auf Büttenpapier
abgezogen, numeriert und vom Verfasser signiert.
In Gerhardts zweitem Gedichtband umkreisung findet sich eine dritte, gekürzte Fassung des Gedichtes.4) Die Abschnitte I und II der Fassung von 1950 werden ersatzlos gestrichen; Abschnitt III entspricht nun Abschnitt I (IV = II; V = III). Die textlichen Veränderungen betreffen ausschließlich Abschnitt I (resp. III): ein Vers wird hinzugefügt, vier Verse der drittletzten Strophe entfallen, ebenso die letzte Strophe. Die Kleinschreibung wird weiter radikalisiert und die noch vorhandenen Satzzeichen werden gestrichen. 5) Eröffnet wird der erste Abschnitt des Gedichts durch einen psalmenartigen Gesang: eine ruhige Naturbeschwörung, die jedoch, zwar noch entfernt, den Schrecken und den Abgrund erahnen läßt, der sich im Fortgang des Textes auftun wird: »die bläuen sterben in den fahlen Himmeln.« In diesem 'Naturbild' erscheint zweimal der Mohn, das erste Mal in Verbindung mit dem Adjektiv 'rot', das zweite Mal als »einfacher Mohn« In beiden Fällen verweist er auf den Schlaf, den 'Bruder des Todes'. Die Stimmung dieses Abschnittes wirkt seltsam zerdehnt und dunkel; ein Vergleich mit Trakls Herbstgedichten drängt sich auf. Es ist nichts sicher, der Boden unter den Füßen schwinde», und es schwindet der einzig sicher[e] grund der verfestigung
daß ich es bin und erkenne und weiß
Die bereits im ersten Abschnitt angedeutete Verknüpfung von Bildern
und Metaphern aus den Bereichen der abendländischen und nicht-abendländischen
Kulturen setzt sich im zweiten Abschnitt verstärkt fort. Ob es das
Alte Testament ist (»die stürme Jesaijas« oder die Antike
(das delphische Orakel, Bacchus, die Erinnyen) oder Shakespeare (Hamlet,
King Lear): die Beziehungen zwischen diesen vielfältigen Andeutungen
sind nicht immer klar zu erkennen, der Verweis deutet manchmal ins Dunkel
einer literarischen Topographie, die kaum zu rekonstruieren ist.
...
In den Wirren der Zeit geschunden (»in finstere schatten gestellt«
schaut der Sprecher aus nach einem Ort, an dem er bleiben, der ihm 'Heimat'
sein kann. Der Blick geht zurück.»)
Den Beginn des dritten Abschnitts möchte ich ein wenig genauer betrachten, da er wesentliche Aussagen über das Selbstverständnis des Dichters macht. Sicher bewußt und mit einer zielgerichteten Absicht zitiert Gerhardt in der ersten Strophe das Gedicht An das Angesicht des Herrn Jesu des Barockdichters Paul Gerhardt. o staub voll blut und wunden
O Haupt voll Blut und Wunden,
mit verlorenen salzen einer verlorenen erde
die blutroten blätter des lorbeer
Der Dichter trägt keine Dornen-, sondern eine Lorbeerkrone, deren
Blätter allerdings blutrot gefärbt sind. Und wenn wir an Gerhardts
Auffassung von der Bedeutung der Dichtkunst für den Dichter
denken, wie er sie in seiner Rundschau der fragmente entwickelt hat, so
beschwören die beiden zitierten Verse die tödlichen Folgen dieses
Handelns: »Ein vers von erheiternder pracht und grosser faszination
kann morgen das todesurteil seines dichters sein.« Das 'Mahl' des
Dichters ist kein Segen und Auferstehung verheißendes 'Abendmahl',
sondern, wie uns der Fortgang des Gedichtes zeigt, ein Furcht und Schrecken
bringendes, an dessen Ende christliches und antik-heidnisches Mysterium
sich vermischen:
Die extrem gefährdete Position des Dichters kann ihn allerdings nicht dazu verleiten, nicht zu seiner Pflicht zu stehen, auch wenn Gegenwart und Zukunft wenig verheißungsvoll sind. Aus dieser Situation zu seinem Volk zu sprechen - das ist unaufgebbare Verpflichtung: ...: hier ist das haus
Diese Worte aus dem Mund eines Zweiundzwanzigjährigen klingen in unseren Ohren pathetisch. Bedenkt man aber die Zeit und ihre extremen Herausforderungen, so erscheinen sie uns auch heute durchaus verständlich. Auf den Trümmern einer Zivilisation das Neue aufbauen zu wollen, ist eine Aufgabe, die die Kräfte eines einzelnen sicherlich übersteigt. In seinem Reich der Wörter baut der Dichter auf den Trümmern der Tradition eine neue Poesie: von dimensionen unserer gewöhnung
Der auf diese 'neue Poetik' folgende Teil des dritten Abschnitts des Gedichts ist gebaut wie eine große Beschwörung. Angerufen wird eine nicht weiter identifizierbare weibliche Figur. Die Anrufungen, beginnend mit »o großes weib«), werden immer unbestimmter, rästselhafter (»o große mutter granitenes gesichto herrin mit dem blutenden maul der türkisenen liebe«). Die letzte Anrufung wendet sich an ein nur noch nebelhaft, in Umrissen vorhandenes Bild: »o maske glimmernd gesicht über den erhebungen der Anden« Den Anrufungen entsprechend gebaut sind die sich anschließenden 'Gesänge' (Litaneien). Das 'große Weib' ist die Mutter der Fortpflanzung, des Weiterexistierenkönnens, der Sexualität. Hinduistische (»die wir den lingam besitzen«) und jüdisch-christliche Vorstellungen (»die wir mit salböl gesalbt«) vereinen sich in dieser matriarchalischen Anrufung der Geschlechtlichkeit. Das 'granitene Gesicht' löst eine auf den ersten Blick nihilistisch anmutende Litanei aus: »die wir die gewißheit des nichts besitzen und ja sagen zu dieser gewißheit«. Aber nur der erste Blick vermag hier eine negative Position zu erkennen, denn die, die hier 'beten' / 'bitten', sagen von sich: »die wir voll freude sind in dieser welt der freudlosigkeit«. Die 'Herrin mit dem blutenden Maul und der türkisenen Liebe', ein nun wirklich erschreckendes Bild, vereint die »tempel beider hemisphären und / ihrer priester und priesterlichen diener / der schrecken und der furcht vor schrecken ...«). Die 'Maske' letztendlich verflüchtigt alles ins Ungewisse, Dunkle: »damit dem geheimnis gegeben / was des geheimnisses ist.«) Die Anspielung auf Markus 12,17 ist eindeutig. Die vier 'Litaneien' illustrieren mit großen und überzeugenden Bildern Ursprung und Ziel der Dichtung, so wie sie Gerhardt verstand. Geschlechtlichkeit, Weltsicht / Weltdeutung, Religion und Geheimnis sind die Wurzeln des Gedichts, der Boden, aus dem Poesie entspringt. Der vierte Abschnitt vereinigt in einer kleinen Apokalypse wieder Bilder
aus allen Kulturen und Zeiten: »... die zyklopen / sprengen die grüfte.
die götter / steigen herauf.« Es geht hier um mehr als um die
äußere Situation eines Menschen in einem von Krieg und Nachkrieg
zerstörten und verwilderten Land. Den Menschen ist die psychische
Grundlage entzogen. Was ist, ist Nacht und Schatten:
landschaften erheben sich vergilbte gemäuer
Und er liefert eine deutliche und präzise Selbstbeschreibung. Wie bereits im zweiten Abschnitt gerät der Sprecher in einen Taumel bei der Suche nach seiner 'Heimat', nach dem Ort, der sein Ort ist. Während er dort seinen Platz in der Tradition sucht, findet er ihn hier in seinem 'nachmittäglichen Land', in dem noch immer das 'Ungeziefer' (der Vergangenheit) bestimmend ist: wo ich hier bin
Es muß an dieser Stelle noch einmal deutlich gesagt werden, daß es Gerhardt nicht darum geht, ein politischer Schriftsteller zu sein, der sich ins Tagesgeschehen einmischt und den vielen anderen vorhandenen Stimmen noch eine mehr oder weniger wichtige hinzufügt. Es geht ihm darum, Gedichte zu schreiben, die in der Gesellschaft, 'in der Gemeinschaft', wie er sagen würde, politisch wirken können. Seine Zeitbeschreibung ist zuerst poetisch und dann aber auch politisch: immer noch dürsten
Die Ungewißheit des Vorhabens ist offensichtlich. Die Bilder sprechen, obwohl manchmal dunkel, eine klare Sprache. Und der 'einsame Gott', der Schöpfer, der wirkliche 'Autor', ruft seinen Sohn, den Autor welt- und sinnstiftender Bilder und Bildwelten. Ohne diesen Sohn, der sein Werk fortführt, bleibt er einsam. Daß dieser Sohn Hamlet heißt, ist nicht nur ein Hinweis auf Tradition, nicht nur literarisches Zitat. In diesem Namen kristallisiert sich, was Heiner Müller - zusammenfassend - so formuliert hat und was sich wie eine Charakteristik Rainer Maria Gerhardts und seines Textes liest: HAMLET ist ein Lustobjekt der Interpreten. Für Eliot die Mona Lisa der Literatur, ein mißlungenes Stück: die Reste des Rächerdramas, marktgängiges Zeitgenre wie heute der Horrorfilm, ragen sperrig in die neue Konstruktion, behindern Shakespeares Material in der Entfaltung. Ein Diskurs, den das Schweigen bricht. Die Dominanz der Monologe ist kein Zufall: Hamlet hat keinen Partner. Für Carl Schmitt ein bewußt, aus politischen Gründen, verwirrter und verdunkelter Text, begonnen in der Regierungszeit der Elisabeth, abgeschlossen nach der Machtübernahme des ersten Stuart, Sohn einer Mutter, die den Mörder ihres Mannes geheiratet hatte und unter dem Beil starb, eine Hamletfigur. Der Einbruch der Zeit in das Spiel konstituiert den Mythos. Der Mythos ist ein Aggregat, eine Maschine, an die immer neue und andere Maschinen angeschlossen werden können. Er transportiert die Energie, bis die wachsende Beschleunigung den Kulturkreis sprengt. 36) In seinem Dialog über neue deutsche Lyrik zitiert Wolfgang Weyrauch den dritten Abschnitt der kürzeren Fassung (= Abschnitt V der Langfassung) und vergleicht ihn mit Gedichten von Robert Berliner. Er kommt zu folgendem Ergebnis: Beide, Gerhardt und Berliner, topographieren, das heißt, sie halten sich an die Zeit, und an den Ort. Sie benennen sie, sie verwörtlichen sie. Das ist das Problem bei ihnen. Aber sie halten sich beim Signalement nicht auf, sie schreiben es ins Geheimnis hinüber. Und das ist die Litanei bei ihnen. Sie schreiben die Einzelheiten der Wirklichkeit auf, doch sie multiplizieren diese Materialien so scharadenhaft, daß sie zum Surrealismus gelangen. 37) Allerdings, so muß man hinzufügen, handelt es sich bei der tod des hamlet nicht um das, was gemeinhin unter Surrealismus verstanden wird. Es geht vielmehr darum, mit Hilfe der unendlich vielen Versatzstücken aus Tradition und Gegenwart ein 'Haus für den Leser' zu bauen. Das die oft verwirrenden Zahl von 'Einzelbausteinen' surreal wirkt, liegt mit Sicherheit nicht an der Traumhaftigkeit des Gesagten, sondern an der häufig nicht vorhandenen geistigen Gegenwart dieser fast 'unendlichen' Tradition. Beide Autoren sind genötigt (...) Gehäuse zu errichten, ihre Gedichte nämlich, in die sie nichts hineinlassen, was nicht zu ihnen gehört. Diese Gebäude werden so integer, daß die profanen Litaneien, die ich erwähnte, zu Bannsprüchen werden. 38) Das Gedicht als 'Gehäuse', wie Weyrauch es nennt, wird 'Wohn-Raum' für den Leser; hier findet er seinen Ort.
1) Wolfgang Weyrauch: Dialog über neue deutsche Lyrik, Itzehoe-Voßkate
1965, Seite 8.
|