3.2.2 Saint-John Perse

Bereits in der ersten Folge der fragmente, blaetter fuer freunde erschienen die Teile I, II, VIII und IX des Gedichtes Regen (Pluies) von Saint-John Perse; Teil VII wird zitiert in Gerhardts Brief an Creeley und Olson. Heft 1 der zweiten Folge der fragmente. internationale revue für moderne dichtung (1951) enthält auf den Seiten 18 bis 19 das Gedicht Berceuse in der Übersetzung von Renate Gerhardt.

In seiner Rundschau der Fragmente stellt Gerhardt eine ganze Anzahl Neuerscheinungen französischer Literatur in deutscher Übersetzung vor. Was ihn vor allem interessiert, ist der Sprechrhythmus vieler Gedichte, der Atem, der fähig ist, die Langzeile (etwa bei Claudel und Perse) hervorzubringen.

"Eine langzeile entsteht nicht durch die anhäufung von unwichtigkeiten, in eine lange zeile gefügt, sondern durch eine musikalische konstruktion einer langhinziehenden phrase, bestehend aus mehreren atemeinheiten, in einem bestimmten und regelmäßigen rytmus geordnet." 1)
 
Auch hier können wir wieder einen pädagogischen Impuls feststellen, wenn Gerhardt sich bemüht, die Langzeile mit ihren nicht zu unterschätzenden Möglichkeiten in der deutschen Literatur heimisch zu machen. Gleichzeitig aber findet sich die enttäuschende Einsicht, daß im 'Land der Dichter und Denker' wohl kaum einer in der Lage ist, diese Form zu beherrschen.

"Ein mangel unter den deutschen dichtern, nämlich der, keinen hervorgebracht zu haben, fähig, eine langzeile zu schreiben oder eine dichtungsprosa, sagt noch lange nicht, dass langzeile und dichtungsprosa im deutschen nicht möglich ist. Gewisse dinge bei Arno Schmidt und Benn, und früher bei Hölderlin und Trakl, lassen es uns möglich erscheinen, dass diese formen im deutschen geschrieben werden können." 2)

Gerhardt schreibt hier über die eigenen Voraussetzungen, und er verknüpft gleichzeitig sein Werk mit der deutschen und europäischen Literatur:

"Certainly, Perse is the collected "sagen des dichters", found nearer home in Holderlin, or in the newer work of Georg Trakl, i.e., the broad rhythms, the french long line, pulled by almost irrational word-fragments, drags the whole reach of the tragic thru these poems." 3)

Außer in den Briefen an Creeley und Olson hat sich Gerhardt nie ausführlicher über Saint-John Perse geäußert, obwohl er in der Rundschau auf die Bedeutung einer eingehenderen Untersuchung dieses Werkes hinweist:

"Das ornament von Perse nimmt eine besondere stellung ein, es wäre des langen und breiten zu untersuchen. Wir begegnen hier stilelementen, die der metaphysischen dichtung eigen sind." 4)

Doch es ist auch hier wieder (vgl. Kapitel 6) der Atem, der für die Poetik der bestimmende Begriff wird, der das SAGEN DES DICHTERS bestimmt. Oder wie Creeley Gerhardt in einem Brief an Olson zitiert: »die einheit der sprache ist der atemzug, der atem.« 5) Und dieser Atem trägt den Rhythmus / die Melodie des Verses.»
"...in Perse, the melodic is the main thing, as such is strung to the breath & ordered by it. What, say, comes to the romantic (spender) or the classic 'riming', this in or for itself - no interest; tho even here something worth the trouble, essential, cd be got to, if the man is such - only it will be, by virtue of such contact (intent) a question of END (terminus), which will serve (?) almost historic interests, while it is for us already associated with method, basic method, to bring new things out, etc. Naturally, a lot is mistaken here, but given time, we will understand ourselves more, know the way of the relations - what we mean. I believe we understand ourselves well. And that's something." 6)
 
Schaut man sich unter diesem Vorzeichen die Übertragung von Berceuse in Heft 1 der fragmente an, so kann man diese Vorstellung nur schwer nachvollziehen: Holprig und unbeholfen erscheint der Vers des Saint-John Perse hier dem deutschen Leser, wenig getragen von Melodie und Rhythmus. 7) Auch hier allerdings (wie in eigentlich allen poetischen 'Annäherungsversuchen' Gerhardts) wieder die Überlegung: Wie kann die im Entstehen begriffene neue deutsche Literatur von den vielfältigen (methodischen) Versuchen und Neuerungen der modernen Weltliteratur lernen? Wie können die neuen Dichter das Neue neu sagen?

Es ist mit Sicherheit der Versuch, wie im Falle der Cantos von Ezra Pound, Geschichte, Welt-Kultur und Zeit in einem großen Wurf zusammenzufassen. Es ist, im Falle Perse, sicherlich auch der 'hohe Ton', der sein Werk von Pound und anderen vergleichbaren Versuchen (Pablo Neruda: Canto General, Charles Olson: The Maximus Poems) unterscheidet.

Gesetz, Methode und Vermögen dieses Dichters bestehen darin, den gleichsam anonymen Atem feierlicher Lobpreisung in ungebrochener Stärke, ja Heftigkeit durchzuhalten, zugleich aber jeder Einzelstelle ein Maximum an Bildkraft, Sinnfülle, Wohllaut zu verleihen und so zwei einander oft ausschließende Prinzipien zu vereinen: das ariose Rezitativ des Rhapsoden und Panegyrikers mit der Knappheit des Lyrikers, dem allein an der makellosen Wiedergabe des auf die kürzeste Formel gebrachten unwiederholbaren Augenblicks gelegen ist. Dem Widerstreit dieser beiden Prinzipien entspringt die ruhelose Spannung dieser Dichtung; der große Atem reißt den Hörer mit sich fort, die wie mit Sensenschlägen eingebrachte Ernte der Bilder aus allen Reichen der Erfahrung und des Wissens weckt zugleich die Lust zu verweilender Betrachtung, die jedes einzelne dieser Bilder bis in die entlegensten Assoziationen sich entfalten lassen möchte. 8) [...]

Bei seinen amerikanischen Freunden stößt Gerhardt mit seiner Schwäche für Perse auf wenig Gegenliebe. So warnt Robert Creeley seinen Freund Charles Olson vor einem Brief des jungen Deutschen:

"...he says he is writing you a long letter on the biz of Perse: hold yr hat, because he sure is goodfey by that man, & why, I still cannot see, but that my dullness with french, has never let me into these gems." 9)
 
Und auch Charles Olson scheint nicht sehr viel mit der Vorliebe des jungen Deutschen für den Franzosen und seinen Vers anfangen zu können. Er glaubt sogar, daß der Einfluß von Perse (und ebenso der von Pound) auf Gerhardts Texte wenig positiv und hilfreich sei.

"((my anger has produced this: that Perse (and Gerhardt, as of this poem [Brief an Creeley und Olson, FJK], at least) are spreaders of false spacism - an that this movement, false as I take it to be, must be the explanation for Gerhardt's attraction to Pound, yrself, or, if he is attracted, to myself. That is, they hold life in their hands as though it were the orb on top of a sceptre." 10)

Der Dichter muß Gerhardts Meinung nach (vgl. Kapitel 6.1) seinen eigenen Atem finden, der den Vers trägt und ihm Raum verschafft. Einflüsse, ob sie von Pound oder Perse (oder Olson bzw. Creeley) kommen, dürfen nicht zu verkrampfter Haltung und Schreibweise führen. Olsons Bemühungen in seiner Freundschaft mit Gerhardt liefen immer darauf hinaus, daß dieser seinen eigenen Ton, sein eigenes Gedicht fände, daß er sich befreie von starren Traditionen und übermächtigen 'Vätern'.
 
 
 


Anmerkungen:

1) Gerhardt, Rundschau, a.a.O., Seite 11.
2) Ebda.
3) Rainer M. Gerhardt an Robert Creeley (Okt./Nov. 1950) in der Übersetzung Robert Creeleys für Charles Olson. - In: Olson / Creeley: Correspondence. Vol. 4, a.a.O., Seite 13.
4) Rundschau, a.a.O., Seite 13.
5) Olson/Creeley, a.a.O., Seite 100.
6) Gerhardt an Creeley (November 1950), in: Olson / Creeley, a.a.O., Seite 31-32.
7) Vgl. die Ausführungen zur Übersetzung dieses Gedichtes in Kapitel 3.4.1.
8) Friedhelm Kemp im Nachwort zu Saint-John Perse: Winde, Frankfurt/M 1987, Seite 162-163.
9) Olson/Creeley, a.a.O., Seite 100.
10) Olson/Creeley: Correspondence, Vol. 6, Santa Barbara 1985, Seite 91.