3.2  Der Anschluß an die Weltliteratur  -  Ezra Pound

Neben der Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition, die sich im poetischen Bereich vor allem in der Aufnahme der Bestrebungen des deutschen Expressionismus und im geisteswissenschaftlich-weltanschaulichen Bereich in der Auseinandersetzung mit dem Werk Ernst Robert Curtius' zeigte, wurde die Beschäftigung mit der nicht-deutschsprachigen Literatur für Rainer M. Gerhardt immer wichtiger. An zwei Klassikern der modernen Weltliteratur soll dieser Aneignungsprozeß gezeigt werden: Ezra Pound und Saint-John Perse. Robert Creeley sah diesen Sachverhalt so: »He takes it back wall is Perse / front Pound: area within: area, which I shake him out of, eh? YOU WILL.« Wobei gleich zu Beginn gesagt werden muß, daß die Gestalt Ezra Pound die weitaus wichtigere ist.
Wenn die Herkunft geklärt ist, wenn die Wurzeln des Schaffens klar offen liegen, muß nach der Auffassung Gerhardts der Dichter nach vorne schauen, um Möglichkeiten zu erkunden, wie in der Gegenwart geschrieben werden kann. Im Blick auf die französische Dichtung der Moderne schreibt er:

Es interessiert uns, welche möglichkeiten uns das werk dieser männer gibt, neue dinge zu schaffen, es interessiert uns einzig dieses werk um der bedeutung für heutiges und künftiges schreiben willen. (...) Ich rede nicht der nachahmung und der billigkeit das wort (...), schlechte verse bleiben schlechte verse, aber es besteht die möglichkeit, mit einem gewissen maass von verantwortungsgefühl gute dinge zu schaffen, oder wenigstens ein bewusstsein von oder für gute dinge, gerade genug, um die wesentlichen dinge in eigener oder fremder sprache aufnehmen und verwerten zu können. Die Wirkungen der moderne sind gleich null, wenn die wirkungen von dichtung gleich null sind. Wald- und Wiesenpoeten sind ausgenommen. 2)
Der Blick geht weit über den eigenen Horizont hinaus, immer auf der Suche nach neuer Dichtung, von der man lernen kann. Und - das scheint besonders wichtig - nicht nur aus egoistischem Antrieb heraus, sondern immer in dem Bewußtsein, daß auch andere lernen müssen, um "gute dinge zu schaffen".
William Carlos Williams ist jemand, von dem lernen zu können Gerhardt überzeugt ist. In den Anmerkungen zu Heft 2 der fragmente wird er ein »besonderer freund der 'fragmente'
Also, he is sending Gerhardt 1st part of PATERSON IV, which shows his trust, I wd figure. Want to copy out for G/selection of the shorter poems, etc., so, if he likes them, etc., he can then ask Williams for permission, etc. Well, will get to it soon. 4)
Von William Carlos Williams erscheinen in den fragmenten die Gedichte the r r bums (Heft 1) und die rote kirche (Heft 2).

Die Kenntnis der überlieferten Dichtung ist wichtig, aber der Dichter, der bei ihr stehenbleibt, kann keine 'wesentlichen Werke' schaffen. Er bleibt Nachahmer und daher uninteressant und unwichtig.

Es wird niemand einem Poeten allgemeiner Qualität, das heisst keiner, einen Vorwurf darauf machen, wenn er bestimmte Dichtungsformen, die ihm seine Vorgänger überliefert haben, benutzt und versucht, das Beste aus ihnen herauszuholen. Seine Bemühungen sind achtenswert aber für die Oeffentlichkeit und speziell für Dichtung und die Arbeit an Dichtung von keinerlei Interesse. (...) Macht man sich die Mühe und betrachtet ein solches Gebilde, findet der belesene Kritiker wohl - je nach der Belesenheit, dem Fleiss, und der Ausdauer des Poeten -eine mehr oder weniger grosse Anzahl von Stilelementen einer mehr oder weniger grossen Anzahl Poeten versammelt. (...) Das alles macht einen sehr schlechten Eindruck und man wird nicht umhin können, diesen Erzeugnissen wohl keinen zweiten Blick mehr zu schenken. Ich würde diesen Dingen keine weitere Aufmerksamkeit entgegengebracht haben, bestünde nicht 9/10 aller Poesie aus solchen Gebilden. 5)

Diese, von Gerhardt 'Nationaldichter' genannten Poeten beherrschen den Markt; für den Fortschritt im Bereich der Literatur sind sie uninteressant. Die Richtung geht nach vorne, die Wendung nach rückwärts führt nicht weiter, sie lähmt. Das Gedicht ist ein sehr komplexes Gebilde und verlangt eine eminente Anstrengung von Seiten des Poeten (...). Der Dichter muss sich (...) bewußt werden seiner Kraft und seiner Macht, seiner ganzen Fülle seines ganzen Wissens, denn alles dies bedarf er, um so zu schreiben. 6)

Diese gewaltige Anstrengung, Vergangenheit und Gegenwart des Gedichtes in seiner ganzen Komplexität darzustellen und zu vermitteln, hat Rainer M. Gerhardt mit seinem Werk auf sich genommen.

3.2.1 Ezra Pound

Die Rezeption der Werke Erza Pounds in Deutschland ist eine wechselvolle Geschichte, die nicht immer nur ausging von den Dichtungen dieses auch heute noch umstrittenen Poeten. Weltanschauliche und politische Vorurteile machten es schwer, dieses Werk durchzusetzen.

In den zwanziger Jahren fand Pound nur geringe Resonanz. Claire Goll veröffentlichte in ihrer Anthologie Die Neue Welt zwei Gedichte in eigener Übersetzung. 7) Zwei Veröffentlichungen in der Berliner Zeitschrift Der Querschnitt stellten den Kritiker vor, nicht den Dichter. 8) In den dreißiger Jahren gab es erste zaghafte Versuche der Literatur- wissenschaften.
Daß das Werk Pounds in den vierziger Jahren, abgesehen von einer Übersetzung 9), in Deutschland totgeschwiegen wurde, scheint verständlich, wenn man bedenkt, daß die Umerziehungsmaßnahmen der Siegermächte das literarische Leben weitgehend bestimmten. Während des Krieges hatte Pound über Radio Rom Vorträge gehalten, in denen er sich kritisch mit der amerikanischen Kriegspolitik auseinandersetzte. Nach der Landung der alliierten Streitkräfte in Genua wurde er verhaftet und für sechs Monate in ein Straflager der amerikanischen Armee in Pisa gesteckt. Das Leben in der Todeszelle 10) ruinierte seine Gesundheit. Man brachte ihn zur Gerichtsverhandlung nach Washington. Er wurde in ein staatliches Sanatorium für Geisteskranke eingeliefert, aus dem er erst im April 1958 entlassen wurde.

Ein Wendepunkt in der Rezeptionsgeschichte bedeutete das Jahr 1949. Ezra Pound bekam den angesehenen Bollingen Preis für seine im Vorjahr erschienenen Pisan Cantos. Die amerikanische Kritik reagierte allerdings überwiegend negativ auf die Preisvergabe; die Deutschen schlossen sich eilfertig an. Thomas Mann stellte die Frage:

Dem Verurteilten, als Verräter eingesperrten verlieh eine Jury distinguierter anglo-amerikanischer Schriftsteller eine sehr angesehene literarische Auszeichnung, den Bollinger[sic]-Preis - und bekundete damit einen hohen Grad von Unabhängigkeit des ästhetischen Urteils von der Politik. Oder war die Politik diesem Urteil doch nicht so fern, wie es schien? Gewiß bin ich nicht der einzige, der wohl wissen möchte, ob die distinguierte Jury Ezra Pound auch dann den Bollinger[sic!]-Preis zugesprochen hätte, wenn er zufällig nicht Faschist, sondern Kommunist gewesen wäre. 11)

Die erste wesentliche Publikation im Nachkriegsdeutschland erschien im Verlag der Fragmente. Bereits in der ersten Folge der fragmente. blaetter fuer freunde erschienen Pour l'election de son sepulchre (Heft 1), Canto XIII (Heft 2) und Canto XLV (Heft 6). Einen guten Überblick über die veröffentlichte Arbeit Rainer Maria Gerhardts am und für das Werk Ezra Pounds gibt Robert Creeley in einer Notiz.
Gerhardt was, as you know, a mayor translator of Pound's work in Germany. At the time of his death he had completed, I think, both a translation of the Pisan Cantos and a large collection of the criticism. Die Grosse Unterweisung and Wie lesen (translated by him) are number 1 and number 4 in the pocket-book series published by his press, Verlag der Fragmente. Canto LXXXIV was published in his translation in the second issue of his magazine, Fragmente, and Mediaevalismus (again his translation) in the first. In addition, he wrote a considerable amount of criticism, most notable I think being an hour-long radio script on the Pisan Cantos which was broadcast several times by various German stations. At least I know of no one there who either cared or worked to such purposes as he did. He was, I think, twenty-seven, possibly twenty-eight. What both he and his wife have done to correct the thirty-year gap which existed in that country after the war, is a thing I don't think anyone can minimize. 12)
Die Redaktion der Zeitschrift ergänzt die Aussage Creeleys:

In addition to Mr. Creeley's account of the work of Rainer Gerhardt, we would add notice of his translation of Canto XIII, XLV and LXXIV, and his translations from Hugh Selwyn Mauberley (all published in Fragmente) and recall that at the time of his death Rainer Gerhardt was working on the publication plans for a complete German edition of the collected works of Ezra Pound. 13)
Im gleichen Heft findet sich die folgende Notiz:

A note for EP collectors: In a letter of last July, Rainer Gerhardt announced that Verlag der Fragmente (Karlsruhe, Weinbrennerstraße 81, Germany) is publishing a special edition of the Pisan Cantos, translated into German. This edition is limited to fifty copies on paper ingres and signed by Ezra Pound; price: $ 15.00. A regular edition was announced to sell at $ 2.75. It is not known whether plans for this edition are still under way. 14)

Etwas später als Gerhardt begann Eva Hesse mit ihren Übersetzungen der Werke Pounds, die bis heute noch nicht abgeschlossen ist. 1953 erschien die von ihr übersetzte Auswahl Dichtung und Prosa im Zürcher Arche Verlag. Wie es zu diesen (fast) parallelen Bemühungen kam, wird wohl nicht mehr vollständig zu klären sein. Rainer M. Gerhardt betont in einem Brief vom 20.9.1950 an Gottfried Benn, daß er in Deutschland alle Rechte an Pounds Werk habe: Nachdem mir Mr. Pound seinen gesamten fundus zur verfügung stellte (er übertrug mir alle rechte für gedrucktes wie unveröffentlichtes material -für die deutsche sprache-) ... wollen wir mit dem 1.1.1951 die "fragmente" als monatsschrift ... erscheinen lassen. 15)
Etwas seltsam mag es auch anmuten, daß die Arche-Auswahl mit einem Vorwort von T.S. Eliot erschien. Nach den Worten Gerhardts hatte Ezra Pound dies deutlich abgelehnt.

Mr. Pound wünscht nicht, dass Mr. Eliot das vor- oder nachwort schreibt. Die philosophie ist das trennende. Mr. Pound schrieb mir, dass man eine kleine untersuchung über die gedichte des Kon Fu Tse seiner auswahl anschließen sollte, das wäre das richtige. 16)

Zur Unklarheit der Situation mag beigetragen haben, daß Pound zu der Zeit in den USA in einer Anstalt für Geisteskranke interniert war und seine Frau die Rechte an den Werken vergab. 17) Der Inhaber des Limes Verlages, mit dem auch Gerhardt Verbindung aufgenommen hatte, erinnert sich an diese Situation:

Ich beschäftigte mich mit Pound, aber ich hatte kein Glück. Ich wurde ein Opfer der vielen Übersetzer, die alle 'Rechte' besaßen, und die einzige, die wirklich von Pound autorisiert war, die charmante, bewundernswerte Eva Hesse, verfehlte ich. (...) Pound 'landete' bei der Arche, bei Peter Schifferli, wo der Dichter einen guten Platz hat... 18)
Wobei gesagt werden muß, daß die in den fünfziger und sechziger Jahren begonnene Pound-Ausgabe arg ins Stocken geraten ist: Nicht einmal die gesammelten Cantos sind bisher erschienen. Die Tendenz scheint zu sein, daß die weit ausholenden Kommentare der Übersetzerin und Herausgeberin Eva Hesse das Werk Pounds überwuchern. Das gilt insbesondere für die Editionen der letzten Jahre. 19)

Die ersten Buchausgaben erschienen im 'Verlag der Fragmente'. 20) - Die nicht mehr realisierbaren Projekte (Vgl. Pound Newsletter, s.o.) sind so vielfältig, daß nur spekuliert werden kann, welcher Verlag heute der Verlag Pounds wäre, wäre Gerhard nicht gescheitert.

Wichtig erscheinen die Motive, die Rainer M. Gerhardt bewogen haben könnten, sich so intensiv dem Werk des amerikanischen Dichters zu verpflichten. Bei allem, was wir heute wissen, können wir sagen, daß er hier die Möglichkeit sah, wie in einem Text viele Überlieferungsstränge zusammengeführt werden können. Bereits in der ersten Folge der fragmente erschienen Übersetzungen aus den Cantos (vgl. Bibliographie).

Programmatisch steht zu Beginn des ersten Heftes der neuen Folge der fragmente ein Aufsatz Pounds:
Mediaevalismus 21),
für dessen Abdruck sich Ernst Robert Curtius in seiner Rezension bedankt:

Das 'Mediaevalismus' betitelte Prosastück von Ezra Pound (...), welches die Fragmente bringen, bietet (...) für Leser, welche die Weltliteratur der letzten vierzig Jahre verfolgten, nichts Neues. Aber die Zahl dieser Kenner ist in Deutschland, und vor allem bei deutschen Schriftstellern, aber auch bei ihren akademischen Fürsorgebehörden, verschwindend gering. Darum sei den Fragmentisten für diesen aufpulvernden Coktail gedankt. 22)

Es handelt sich bei diesem Text um einen Essay über Guido Cavalcantis (1255-1300) Gedicht über die Natur der Liebe: Donna mi priega, perch'io voglia dire, das Pound für die damalige florentinische Gesellschaft als gefährlich erachtet: »sie mögen den florentinern von A. D. 1290 ebenso beruhigend erschienen sein wie konversation über Tom Paine, Marx, Lenin und Bucharin es heute bei einem methodistischen bankiersfestessen in Memphis, Tenn., sein würde.«)»Gefährlich und damit wirksam ist der Dichter und der Kritiker dann, wenn der das Alte aufnimmt und sich dann dem Neuen zuwendet. Diese Auffassung versucht Pound am Beispiel Cavalcantis zu erläutern. Doch nicht so sehr der Gegenstand des Textes ist es, der für die fragmente richtungsweisend werden soll, sondern die Methode Pounds, seine Geschichtsbetrachtung und seine Text- und Formkritik. Besonders deutlich wird dieses Programm im Titel der Sammlung, der dieser Essay entnommen ist: Make It New (1934). Mit den Augen des Alten das Neue sehen und es (be-)schreiben:

Ein mittelalterlicher "naturphilosoph" würde diese moderne welt voller zauber finden, nicht nur das licht der elektrischen birne, sondern auch den gedanken vom umlauf, verborgen in der luft oder im draht, würde ihm den geist mit formen anfüllen, "fuor di color" oder mit ihren hyper-farben. Der mittelalterliche philosoph würde vielleicht unfähig sein, die elektrische welt zu denken und sie nicht als eine welt der formen zu denken. Vielleicht hat die algebra unsere geometrie verdorben. 24)
Der literarischen Öffentlichkeit des Jahres 1951 mag dieser Text und sein 'exotischer' Gegenstand ziemlich rätselhaft und wenig konstruktiv erschienen sein. Ein Leser wie Curtius, der ihn zu würdigen wußte, muß eine seltene Erscheinung gewesen sein. Doch nur vor diesem Hintergrund von Tradition und Moderne ist das Werk Gerhardts zu verstehen. Daß es ein amerikanischer Dichter war, der ihn diesen Weg führte, mag nur den oberflächlichen Leser verwundern. Pound und, in noch stärkerem Maße, T. S. Eliot waren Poeten, die sich ihrer Wurzeln bewußt waren. Erst mit William Carlos Williams und Charles Olson tauchen Amerikaner auf, die ihren 'Raum' in der Neuen Welt finden.

Von besonderer Bedeutung für die Pound-Rezeption (und für Gerhardts Verständnis von der Rolle des Dichters in der Gesellschaft) sind die beiden in der schriftenreihe der fragmente erschienenen Taschenbücher mit Übersetzungen:

Das Testament des Confucius. Die grosse Unterweisung oder das Erwachsenenstudium übertragen von Ezra Pound 25)

Nicht von ungefähr beginnt Rainer M. Gerhardt seine Taschenbuchreihe mit diesem Werk und knüpft gleichzeitig durch die Umschlaggestaltung eine Verbindung zum ersten Text im ersten Heft der fragmente. Zwei Drittel des Umschlags werden eingenommen durch das chinesische Ideogramm für Sonne und Mond. Pound schreibt zu diesem Ideogramm:

Die sonne und der Mond, der ganze lichtprozeß, die ausstrahlung, aufnahme und rückstrahlung des lichts. Hieraus die intelligenz. Hell, helligkeit, glänzen. Verweise auf Scotus Erigena, Grosseteste und die anmerkungen über licht in meinem Cavalcanti. 26)

Confucius ist für Pound (und für Gerhardt) der Philosoph, der zweitausend Jahre politischer Erfahrung für die Politik, und das ist nichts anderes als der Verkehr, der Umgang der Menschen miteinander, nutzbar gemacht und diese Gedanken auf wenigen Seiten niedergelegt hat: »China war ruhig, wenn seine herrscher diese wenigen seiten verstanden. Als die hier definierten prinzipien vernachlässigt wurden, schwanden die dynastien und chaos folgte.«
Nach einer kurzen Einführung von Pound folgt eine Erläuterung der confucianischen Terminologie anhand der entsprechenden Schriftzeichen. Dadurch erhält der Leser zugleich einen Einblick in chinesische Schreib- und Denkmuster und confucianisches Denken.

In einem auch für Gerhardts Denken wichtigen Ideogramm werden die Zeichen für 'Wort' und 'Mann' zu einer neuen Bedeutungseinheit zusammengefügt:
 

  Treue zum gegebenen Wort.
  Der Mann steht hier bei seinem Wort.
28)
 

Die Überlieferung des Kanons geschah durch Confucius' Schwiegersohn Tseng Tse, der den Text mit einem ausführlichen Kommentar versah. Pound fügte diesem Kommentar eigene Anmerkungen hinzu.
Nach seiner Auffassung muß der Mensch, der für andere etwas leisten will, zu seinen Wurzeln gehen. Herz und Kopf sollen studiert und vereint werden. Nur der, der an die Wurzeln geht und von ihnen ausgeht, kann Familie und Staat in der Ordnung halten, die dem Chaos entgegensteht. Selbstbeobachtung und Selbsterziehung ist die Methode. Und dieses Prinzip ist nicht nur einmal für allemal anzuwenden, sondern immer. Und so gibt Tseng in seinem Kommentar die Maxime des Philosophen T'ang wieder, die dieser in goldenen Buchstaben an seinem Badezuber angebracht hatte, und die auch Pounds Maxime war:
»WIE DIE SONNE MACHT ES NEU
 TAG FÜR TAG MACH ES NEU
 IMMER WIEDER MACH ES NEU. Diese Selbsterziehung ist unabdingbar für den politisch handelnden Menschen, und auch der Dichter ist nach Auffassung Pounds (und nach der Gerhardts) ein Zoon politikon.

Wenn das herz nicht dauerhafte wurzel hat, begierig nach gerechtigkeit, schaut man und sieht man nicht (schaut und sieht phantome), horcht und hört man nicht (horcht innerlich und hört nicht objektiv), ißt und kennt man nicht den geschmack.
Das ist es, was wir meinen, wenn wir sagen: selbsterziehung ist verwurzelt im berichtigen des herzens. 30)

Als Ezra Pound am 24. Mai 1945 in das Militärstraflager Metato bei Pisa gebracht und in einen Käfig aus Metallmaschen gesteckt wurde, hatte er nur seinen Confucius-Band und eine Bibel zur Lektüre. In dieser drei Quadratmeter großen Zelle, die Tag und Nacht bewacht wurde, übersetzte er Das Testament des Confucius und begann mit dem 'Herzstück' seiner Cantos, den Pisan Cantos.
Bedenkt man die Umstände, unter denen die Übersetzung entstanden ist, so kann man auf die Bedeutung schließen, die diese kleine Schrift in den Werken Pounds und Gerhardts einnimmt. Hier ist die Basis, der Ausgangspunkt des Schaffens: Was für die großen Dynastien galt, gilt auch für die Familie, gilt auch für den einzelnen:

Der übersetzer möchte mit der bitte an den leser schließen, zu beharren und immer wieder die ganze unterweisung zu lesen, bis er versteht, wie diese wenigen seiten die basis zum inhalt haben, auf welcher die großen dynastien aufgebaut waren und dauerten, und warum - ermangelte diese grundlage - die anderen und geringeren dynastien rasch zugrundegingen.

Disciplinary Training Centre, Pisa,
5. Oktober - 5. November 1945.                                                            Ezra Pound. 31)

Eine pädagogisch-moralische Haltung steht auch hinter der Veröffentlichung des zweiten Pound-Werkes in der schriftenreihe der fragmente:

Wie lesen 32)

Der hier vorliegende 'Leseplan' erschien zum erstenmal im Jahre 1931 in London und war gerichtet gegen den Literaturunterricht der Universitäten, den 'akademischen Fürsorgebehörden für Dichter' wie Curtius sie nannte.

Literarische Unterweisung war an unseren 'institutionen des geistes' zu beginn dieses jahrhunderts beschwerlich und unwirksam. Ich wage zu sagen, sie ist es noch. Gewisse, mehr oder weniger unbedeutende professoren waren ergriffen von den 'schönheiten' verschiedener autoren (gewöhnlich verstorbener), aber das system als ganzes entbehrte des sinnes und der koordination. Ich wage zu sagen, es tut es noch. (...) An meiner universität fand ich verschiedene männer, interessiert (oder nicht interessiert) an ihren gegenständen, aber, so glaube ich, keinen mann mit keinem blick auf die literatur als ganzes, oder mit irgendeiner vorstellung davon, wie auch immer die beziehung des teils, den er lehrte, zu einem anderen teil sein mochte. 33)
Es folgt nach einer vehementen Polemik eine kleine Schrift, die man als Theorie dessen bezeichnen kann, was heute Komparatistik genannt wird: »'Vergleichende literaturwissenschaft' erscheint manchmal in den universitätslehrplänen, aber sehr wenige leute wissen, was sie mit diesem terminus meinen, oder nähern sich ihr mit einer überlegten bewußten methode.« 'wie lesen' ist eine Schrift für ein breites Publikum, nicht für Spezialisten. Der Dichter, der Leser, der Lehrer - alle sind angesprochen. Die Tendenz ist zu zeigen, daß Literatur nicht ein Gebiet für den Fachmann ist und daß die Trennung in Wissende und Unwissende falsch ist. Ebenfalls soll eine andere überholte Trennung aufgehoben werden: die, die Wissenschaft und Poesie so strikt auseinanderhält, daß Denken und Empfinden nicht mehr als zwei gleichwertige und gleich zu behandelnde Möglichkeiten eines einzigen Erkenntnisprozesses angesehen werden können. Pound und sein deutscher Vermittler versuchen in allen ihren Bemühungen, diese verlorengegangene Einheit wiederherzustellen. Es ist eine sehr vielfältige Einheit: die von Tradition und Moderne und die von Denken (Kritik) und Empfinden (Poesie). Konsequenterweise wehrt sich ein solch hervorragender Kenner des Pound'schen Werkes wie T.S. Eliot denn auch gegen die Bemühungen einiger Kritiker, den Dichter und den Essayisten auseinanderzudividieren: »Man muß ihn [Pound] nach seiner Gesamtleistung für die Literatur beurteilen: nach seiner Dichtung und seiner Kritik und seinem Einfluß auf Menschen und Ereignisse an einem Wendepunkt der Literatur.« Diese Forderung, die Eliot hier für Ezra Pound aufstellt, den 'miglior fabbro' wie er ihn in der Widmung zu The Waste Land nennt, diese Forderung kann man ohne zu zögern auch für Rainer M. Gerhardt aufstellen.
Es ist hier nicht der Ort, das Werk, obwohl es nur achtundvierzig Seiten umfaßt, in seiner ganzen Breite und Fülle darzustellen. Die Komprimiertheit der Aussagen und Definitionen lassen dies nicht zu. Wichtig jedoch ist, festzustellen, daß hier die meisten Anregungen und Einflüsse zu finden sind, die Gerhardts Arbeit bestimmt haben:

Pound und seine Zeitgenossen versuchten nun, eine Einheit des Wissens - wie sie etwa im Mittelalter bestanden hatte - wiederherzustellen, indem sie zeigten, daß sich die freie, wissenschaftliche Untersuchungsmethode und das dichterische Erlebnis keineswegs ausschließen, daß der ästhetische Impuls vielmehr aus dem artverwandten Drang nach einer Präzision der Aussage besteht, welche allein imstande ist, die konkrete Vorstellung zu wecken. Die Spaltung von Denken und Fühlen kann so in den großen dichterischen Momenten aufgehoben werden. 36)

In diesem Sinne ist auch Gerhardt nicht nur Schüler, sondern vor allem ein Zeitgenosse Pounds, der  versucht, den Schatz der Überlieferung zu heben, um ihn mit den Bemühungen der Zeit zu vermählen und der vor diesem Hintergrund die Maxime seines Schaffens verkündet, die die Maxime seines Meisters ist: MAKE IT NEW!

Nicht nur im eigenen Verlag versuchte Rainer M. Gerhardt das Werk Pounds dem deutschen Leser nahezubringen. Er wählte ein für die damalige Zeit ungewöhnliches, aber bedeutendes und wirksames Publikationsmittel: das Radio.

Der hier bereits (mit den Worten Robert Creeleys) erwähnte einstündige Radiobeitrag Die Pisaner Gesänge mit Übersetzungsversuchen Gerhardts muß als verloren gelten. Die Sendung enthielt Teile aus bereits veröffentlichten Übersetzungen (fragmente, schriftenreihe der fragmente). Auf welche Resonanz diese Sendung gestoßen ist, kann heute nicht mehr rekonstruiert werden. Ein weiteres siebzigminütiges Feature wurde vom Nordwestdeutschen Rundfunk in Hamburg 1954 unter dem Titel Ezra Pound gesendet. 37) Nähere Angaben sind nicht erhalten. 38) Die bereits mehrfach erwähnte maer von der musa nihilistica enthält Pounds E.P. Ode pour l'élection de son sépulchre 39).
Welcher Verlust die Leser des Pound'schen Werkes mit Gerhardts Tod traf, formulieren The Pound Newsletter so:

It has been a year of achievement, it also has been a year of loss, for on the 27th of July, Rainer Gerhardt, the young German poet and editor, died in Baden. In honor and in sympathy, we are dedicating this final issue of the year to Rainer Gerhardt. 40)

Bei weitem nicht so ausführlich, intensiv und mit weitreichenden Konsequenzen verbunden ist die Beschäftigung mit einem anderen Klassiker der Moderne, mit dem französischen Diplomaten und Dichter Saint-John Perse.
 
 
Anmerkungen:

1) Robert Creeley an Charles Olson, in: Charles Olson & Robert Creeley: The Complete Correspondence. Vol. 4, Santa Barbara 1982, Seite 11.
2) Gerhardt, Rundschau, a.a.O., Seite 15.
3) fragmente. Heft 2, a.a.O., Seite 64.
4) Olson/Creeley, a.a.O., Seite 57.
5) Gerhardt, musa nihilistica, a.a.O., Seite 11-12.
6) A.a.O., Seite 28.
7) »The GirlFehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.The Garret
8) Der Nobelpreis, in: Der Querschnitt, Berlin, Frühling 1924, Seite 44-46. - James Joyce's "Ulysses", in: Der Querschnitt, Berlin, Sommer 1924, Seite 137-141.
9) Nacht-Litanei, übersetzt von Heinz Politzer, in: Der Turm, 2. Jhg., H. 9/10, Wien 1947, Seite 332.
10) Vgl. das Nachwort von Eva Hesse und die Dokumentation zum Straflager bei Pisa, in: Ezra Pound: Die Pisaner Cantos, Zürich 1985, Seite 231-283.
11) Thomas Mann: Der Künstler und die Gesellschaft, in: Gesammelte Werke, Band X (Reden und Aufsätze 2), Frankfurt/M 21974, Seite 396-397. - In der entsprechenden DDR-Ausgabe lautet der letzte Satz: »..., wenn er nicht zufällig Fascist, sondern - das andere gewesen wäre...« In: Gesammelte Werke, Band 11, Berlin und Weimar 1965, Seite 541. - Eine seltsame Blüte deutsch-deutscher Phi_lologie!  »
12) Robert Creeley in: The Pound Newsletter 4, Berkeley, Cal., October 1954, Seite 1.
13) Ebda.
14) A.a.O., Seite 13.
15) Rainer M. Gerhardt an Gottfried Benn, in: Hyner / Salzinger, Leben ..., Teil I, a.a.O, Seite 51-52.
16) A.a.O., Seite 51.
17) Der Buchstabe des Gesetzes mag dem Arche Verlag das Recht für seine Ausgabe zusprechen. Allerdings, so ist zu fragen, wie kann einem Dichter das Recht an seiner Dichtung, die noch lange nicht abgeschlossen war, abgesprochen werden?
18) Max Niedermayer: Pariser Hof. Limes Verlag 1945-1965, Wiesbaden 1965, Seite 96-97.
19) Nachdem im Jahr 1975 Letzte Texte. Entwürfe und Fragmente zu Cantos CX-CXX im Arche Verlag erschienen war, wurden nur noch folgende Ausgaben publiziert:
 1) Ezra Pound: Usura-Cantos XLV und LI. Texte, Entwürfe und Fragmente. Herausgegeben und kommentiert von Eva Hesse, Zürich 1985. - Die Dokumentation umfaßt die Seiten 13-71, Anmerkungen und Kommentar umfassen die Seiten 73-156.
 2) Ezra Pound: Die ausgefallenen Cantos LXXII und LXXIII. Herausgegeben von Eva Hesse, Zürich 1991. - Der Text der Cantos umfaßt 22 Seiten, der Kommentar 128 Seiten. Dazu erschien als Ergänzung: Eva Hesse: Die Achse Avantgarde - Faschismus. Reflexionen über Filippo Tommaso Marinetti und Ezra Pound, Zürich 1991, 365 Seiten.
 Veröffentlicht sind in der Ausgabe des Arche Verlages die Cantos I-XXX, LXXIV-LXXXIV und CX-CXX. Auf eine Veröffentlichung warten die Cantos XXXI-LXXIII und LXXXV-CIX. Die deutschen Leser Ezra Pounds müssen sich also mit der knappen Hälfte seines Hauptwerkes begnügen.
20) - Das Testament des Confucius. Die grosse Unterweisung oder das Erwachsenenstudium übertragen von Ezra Pound, Karlsruhe 1953 (= Schriftenreihe der Fragmente 1)
 - Wie lesen, Karlsruhe 1953 (= Schriftenreihe der Fragmente 4).
21) Ezra Pound: Mediaevalismus, in: fragmente, Heft 1, a.a.O., Seite 1-7.
22) Curtius, Fragmente, a.a.O.
23) Pound, a.a.O., Seite 1.
24) A.a.O., Seite 6.
25) Vgl. Anm. 14.
26) Pound, Confucius, a.a.O., Seite 6.
27) A.a.O., Seite 5.
28) A.a.O., Seite 7.
29) A.a.O., Seite 15.
30) A.a.O., Seite 23.
31) A.a.O., Seite 36.
32) Vgl. Anm. 14.
33) Pound, Wie lesen, a.a.O., Seite 3-4.
34) A.a.O., Seite 5.
35) T.S. Eliot: Ezra Pound, in: Ezra Pound: Dichtung und Prosa, Frankfurt/M und Berlin 1962, Seite 12.
36) Eva Hesse: Vorwort zu Ezra Pound: Wort und Weise, Frankfurt/M 1981, Seite 9.
37) The Pound Newsletter 4, a.a.O., Seite 32.
38) Zum Thema Radiosendungen vgl. auch Kapitel 3.3.3.
39) Gerhardt, musa nihilistica, a.a.O., Seite 3-6.
40) The Pound Newsletter 4, a.a.O., Seite 1.