3.1.3 Paul Klee

Es kann nichts überstürzt werden. Es muß wachsen, es soll hinaufwachsen, und wenn es dann einmal an der Zeit ist, jenes Werk, desto besser!

Wir müssen es noch suchen.
Wir fanden Teile dazu, aber noch nicht das Ganze.
Wir haben noch nicht diese letzte Kraft, denn:
uns trägt kein Volk.

Aber wir suchen ein Volk, wir begannen damit, drüben am staatlichen Bauhaus.
Wir begannen da mit einer Gemeinschaft, an die wir alles hingeben was wir haben.
Mehr können wir nicht tun.
1)

Mit diesen Worten beendet Paul Klee seinen 1924 gehaltenen Vortrag, in dem er die Ergebnisse einer vierjährigen pädagogischen Tätigkeit am Bauhaus in Weimar zusammenfaßt. 1949 wurde dieser Essay gedruckt und von Rainer Maria Gerhardt in der 'Rundschau der Fragmente' 2) rezensiert. Es ist erstaunlich, wie viel von Gerhardts literarischer und weltanschaulicher Position in diesen wenigen zitierten Zeilen zu finden ist. Die Bauhaus-Gemeinschaft 3) mag ihm sicherlich vorgeschwebt haben, als er bereits im ersten Heft der ersten Folge der Fragmente schrieb:

"Wir bleiben bei dem, was wir immer wollten, neues zu suchen und zu finden und eine kleine gemeinschaft zu sein, der es auf die versuche ankommt." 4)

Später, in einem Gespräch mit Robert Creeley, präzisiert er diese seine Vorstellung von Gemeinschaft:

"He spoke to me of what he felt to be the community, the complex of people any city or town describes. He felt that a writer was not distinct from such a unity, but rather helped very literally in its definition." 5)

Erstaunlich zu sehen ist auch die Korrespondenz zwischen Klee (»Wir fanden Teile dazu, aber noch nicht das Ganze.« und William Carlos Williams: »Wie sehen die Teile, aber wir antizipieren das Ganze.« 6) - Der Hintergrund der Moderne scheint, unabhängig von der Kluft der Kontinente, auf den gleichen Voraussetzungen zu fußen.»
Ebenso wichtig wie dieser Hintergrund sind die Überlegungen Klees zur Technik der modernen Malerei. 7) Im formalen Bereich der Kunst, den Gerhardt auch auf den Bereich der Dichtung angewandt wissen will, unterscheidet er Farbe, Tonalität (Hell-Dunkel) und Linie.

"Am meisten begrenzt ist die Linie, als eine Angelegenheit des Maßes allein. Es handelt sich bei ihrem Gebahren um längere oder kürzere Strecken, um stumpfere oder spitzere Winkel, um Radienlängen, um Brennpunktdistanzen. Immer wieder um Meßbares!
Das Maß ist das Kennzeichen dieses Elementes und wo die Meßbarkeit fraglich wird, ist man mit der Linie nicht in absolut reiner Weise umgegangen."
8)

In seiner Rezension überträgt Rainer M. Gerhardt diese Überlegungen des bildenden Künstlers in eine Poetik des modernen Gedichts:

"Adäquat diesem wäre es notwendig, eine wertigkeitsskala der sprachlichen mittel aufzustellen, die wertigkeit von laut, wort, phrase, das verhältnis von phrasen, gebunden durch den atem, und durch diesen in ihrer dauer bestimmt, die bewegungen der tonqualitäten, die farbskala der töne, der tonbereich, die spannungsverhältnisse zu untersuchen." 9)

Doch diese Arbeit ist (1951) noch nicht geleistet. Die Dichter (Gerhardt führt in diesem Zusammenhang Gottfried Benn an.) und ihre Gedichte sind zu unbescheiden, ihr Anspruch ist größer als das, was sie leisten können. »Wenn man betrachtet, was die dichter in dieser zeit und mit welchem ergebnis sie etwas taten, kann man nicht anders behaupten, dass sie geschlafen haben.« 10)
Mir scheint, daß noch ein weiterer wesentlicher Aspekt der Klee'schen Überlegungen in Gerhardts Dichten eingegangen ist: das Verhältnis des Künstlers resp. Kunstwerks zur Natur, zur Realität.

Einmal mißt er (der Künstler) diesen natürlichen Erscheinungsformen nicht die zwingende Bedeutung bei, wie die vielen Kritik übenden Realisten. Er fühlt sich an diese Realitäten nicht so sehr gebunden, weil er an diesen Form-Enden nicht das Wesen des natürlichen Schöpfungsprozesses sieht. Denn ihm liegt mehr an den formenden Kräften, als an den Form-Enden.
"Er ist vielleicht, ohne es gerade zu wollen Philosoph. Und wenn er nicht wie die Optimisten diese Welt für die beste aller Welten erklärt, und auch nicht sagen will, diese uns umgebende Welt sei zu schlecht, als daß man sie sich zum Beispiel nehmen könne, so sagt er sich doch:
In dieser ausgeformten Gestalt ist sie nicht die einzige aller Welten!"
11)

Gerhardt spricht vom Eigenleben des Gedichtes 12), das sein Material zwar in der Wirklichkeit findet, es aber zu einer neuen Schöpfung umformt. »Das Gedicht hat ein eigenes Leben.« 13) Dieses Leben ist nicht gebunden an Zustimmung oder Ablehnung einer Welt, die nur 'Material' ist. Es ist (nach Klee) Aufgabe des Künstlers, der 'uns umgebenden Welt' eine Alternative entgegenzustellen: eine eminent politische Aufgabe.
Es geht nicht mehr nur um poetische Dinge, jede Frage nach Poesie ist heute auch eine politische Frage, eine Frage, die den Menschen als solchen berührt. Es geht um die Sauberkeit des Denkens und Handelns schlechthin, um die Sauberkeit der Handwerkszeuge, die Sauberkeit unseres Fühlens, und das heisst vor allem: der Genauigkeit (...). 14)
Genauigkeit im Gebrauch der Mittel, Aufrichtigkeit im Sprechen - das sind die wesentlichen Gemeinsamkeiten aller künstlerischen Arbeit. Und hier lernt der junge Dichter 1951 von Äußerungen des bildenden Künstlers aus dem Jahre 1924. Hier finden sich Gemeinsamkeiten über die Zeiten hinweg.
 
 


Anmerkungen:

 
1) Paul Klee: Über die moderne Kunst, Bern-Bümplitz 1949, Seite 53.
2) Gerhardt, Rundschau, a.a.O., Seite 5-6.
3) In dem letzten, kurz vor seinem Tod herausgegebenen Verlagsprospekt ist eine Reihe (»der neue stil« angekündigt, die Bauhausbücher und Werke anderer, vergleichbarer Gemeinschaften (Black Mountain, Chicago Art School, Neue Werkschule Ulm, etc.) ver_öffentlichen sollte.»
4) fragmente. blaetter fuer freunde, a.a.O., Heft 1.
5) Robert Creeley: Rainer Gerhardt: A Note, in: WORK / 3, ed. by John Sinclair, Detroit, Mich., Winter 1965/66, Seite 5. - Vgl. auch Kapitel 4.2.
6) William Carlos Williams, zitiert in: fragmente. eine internationale revue für moderne dichtung, a.a.O., Seite 65.
7) »Wenn wir uns nach literatur umsehen, finden wir kein anderes Buch als das von Paul Klee "Über die moderne Kunst" von einiger wichtigkeit. Was hier über die linie gesagt wird, gilt in gleicher weise für den vers.« Rainer Maria Gerhardt: Rundschau der Fragmente, a.a.O., Seite 5.»
8) Klee, a.a.O., Seite 19.
9) Gerhardt, Rundschau, a.a.O., Seite 6.
10) Ebda.
11) Klee, a.a.O., Seite 43.
12) Gerhardt, Rundschau, a.a.O., Seite 7
13) Ebda.
14) Gerhardt, musa nihilistica, a.a.O., Seite 24.