3.1.1 Ernst Robert Curtius

"Mein Buch ist nicht aus rein wissenschaftlichen Zwecken erwachsen, sondern aus Sorge für die Bewahrung der westlichen Kultur. Es macht den Versuch, die Einheit dieser Tradition in Raum und Zeit mit neuen Methoden zu beleuchten. Im geistigen Chaos der Gegenwart ist es nötig, aber auch möglich geworden, diese Einheit zu demonstrieren. Das kann aber nur von einem universalen Standpunkt aus geschehen. Diesen gewährt die Latinität." 1)
Dies schrieb Ernst Robert Curtius im Dezember 1953 im Vorwort zur zweiten Auflage seines Werkes Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, und im Vorwort zur ersten Auflage 1947 heißt es: »Das vorliegende Buch ist dem Wunsch entsprossen, dem Verständnis der abendländischen Tradition zu dienen, soweit sie sich in der Literatur bezeugt.« 2) In diesen Absichtserklärungen des Romanisten erkannte Rainer M. Gerhardt seine eigenen Vorstellungen von der Rolle des Literaturvermittlers wieder. Auch er wollte nach dem Chaos der Kriegs- und Nachkriegszeit der Literatur und damit dem Menschen wie er eine geistige Heimat, einen Raum geben, der, ausgehend von den großen Traditionen Möglichkeiten bot, Neues zu schaffen.

Einen ersten Kontakt zu Curtius gab es bereits vor 1950: Im ersten Heft des Jahrgangs 1948 der Zeitschrift Merkur erschien Curtius' Übersetzung von Pervigilium Veneris unter dem Titel Die Nachtfeier der Venus. 3) Sie sollte Anstoß sein zu einer poetischen Entgegnung, mit der Gerhardt seinen Gedichtband umkreisung eröffnete: variationen mit der Widmung für Ernst Robert Curtius 4).

Das entscheidendere Ereignis jedoch war das Erscheinen von Curtius' Kritische Essays zur europäischen Literatur 5). In seiner programmatischen Beilage zum ersten Heft der fragmente geht Gerhardt ausführlich auf dieses Werk ein. Seiner Auffassung nach hat Kritik heute drei verschiedene Aufgaben:

 1. die bewusstseinslage einer sache zu untersuchen, material und formen als material und formen dieser bewusstseinslage zu deuten,
2. den standpunkt, den geistigen raum einer sache zu untersuchen, womit verbunden ist die problemstellung innerhalb dieses raumes, und seine beziehung zu stil und form und
3. form und sprache zu prüfen."
6)
 
Curtius' Buch gehört zur zweiten Kategorie. Der Raum, der untersucht wird, ist die europäische Literatur:

Immer ging es mir um dasselbe: Europabewußtsein und abendländische Tradition. Aber mit steigenden Jahren mußte ich tiefer graben, weiter ausgreifen in Raum und Zeit. Kontinuität wurde mir wichtiger als Aktualität: Virgil und Dante bedeutsamer, als die Neueren seit Goethes Tode. 7)
Liest man Gerhardts Text aufmerksam, wird man feststellen, daß es ihm in erster Linie nicht um eine dem Werk gerecht werdende Darstellung geht (auch nicht um eine 'Beschreibung', wie er es nennt), sondern um eine Reflexion des eigenen Standpunkts; oder, mit seinen eigenen Worten: »dem gedanken andere gedanken anschließen oder entgegensetzen.« 8) Von Pound herkommend 9) verwundert es ihn, daß Curtius Vergil, in dessen Literatur die Idee im Zentrum steht, die Stellung zubilligt, die seiner Meinung nach Catull, Ovid und Propertius, in deren Dichtungen die Poesie selbst im Mittelpunkt steht, zukommt.

"Es mag unser verwundern erregen, dass Vergil die grosse aufmerksamkeit am eingang des buches gewidmet ist, aber wenn wir fragen, warum nicht Catull oder Ovid das interesse, das primäre interesse gewannen, und die frage in erster linie an uns selbst richten, müssen wir antworten, dass die frage nach der vorherrschaft der genannten dichter Catull, Ovid, Propertius eine frage ist, die nicht mehr aus dem geistigen raum, genannt Abendland oder Europa, allein erwächst. Wir legen bereits einen masstab an (oder haben eine vorstellung eines maasses in uns), der zu anderem als an abendländischer dichtung geschult und erzogen wurde. Der zug von Homer zu Vergil und weiter zu Dante und den klassikern der französischen bühne entspricht einer anderen geistigen haltung als der zug von Homer über die Sappho zu Ovid, Catull und Propertius und von dort zu den provenzalischen und toskanischen dichtern, zu Dante, zu Villon, etc. Das maass des Abendlandes, in der ersten reihe festgehalten durch eine humanistische vorstellung von einer ordnung, einer staatlichen ordnung, und in einer vorstellung vom imperium (und darum Vergil) ist grundverschieden vom interesse, der anderen reihe abgewonnen, und zwar einer sache, die in erster linie nicht durch ihre idee, ihre für etwas stehende idee, ihre wirkung zeitigt, sondern durch sich selbst, als kunstgebilde, als ding der dichtung." 10)
 
Es ist verständlich, daß Gerhardt mit dieser Sicht der Tradition, genauer mit dieser (Auf-) Teilung der Tradition bei Curtius auf Widerspruch stoßen mußte. Auf der einen Seite steht die staatlich-humanistische Idee, vertreten durch den von Curtius propagierten Vergil, auf der anderen die Kunst; genauer gesagt: die für sich stehende, freie Kunst, Literatur etc. So muß sich Gerhardt von ihm sagen lassen: »Catull, Ovid, Properz sind auch von einigen Europäern, wie Goethe und Borchardt, gepriesen worden. Daß man ihnen aber den Vergil opfern müsse, ist ein Dekret von Pound, dessen Rechtsgründe erst zu prüfen wären.« 11) Ein anderer Einwand, den Curtius formuliert, bezieht sich auf Gerhardts Verwunderung, daß der Begriff 'Mediaevalismus' etwas zaghaft nur in der Nachrede des Werks auftauche. Es fragt bei Gerhardt nach: »Wo, bitte?« Wenn wir kurz nachschauen, können wir Curtius' Frage beantworten: auf Seite 432. 12)
Es soll die Aufgabe des jungen Nachkriegsdichters sein, eine Ordnung zu schaffen, etwas dem Chaos, das ihn umgibt, entgegenzusetzen, eine geistige Heimat zu finden.

"Der zwang zur eigenen ordnung ist eminent. Es erscheint mir heute notwendig, dass solche ordnungen geschaffen werden, und es ist wesentlich, dass solche bücher äusserster geistiger disziplin veröffentlicht werden. Die demonstration einer ordnung, das setzen eines klassischen maasses, gewonnen an Vergil und an Goethe, an der abendländischen ordnung, dargestellt an den dichtern dieses jahrhunderts, verändert eine welt oder schafft eine neue. Sie ist befähigt, eine neue zu schaffen, wenn es ein einsichtiger und befähigter geist übernimmt, den fehdehandschuh aufzunehmen, und alle abgrenzungen zu schaffen, die notwendig sind, um für das heutige schreiben einen nutzen aus diesem buch zu ziehen. Ich meine ein schreiben, das über die ergebnisse von heute - auf grund der erfahrungen dieses buches - hinausgeht." 13)

Der Rückgriff auf die abendländische Tradition (sowohl bei Curtius wie bei Gerhardt) hat nur auf den ersten und sehr flüchtigen Blick etwas mit den Restaurationsbemühungen im Nachkriegsdeutschland gemein. Der Traditionsbegriff der fünfziger Jahre zielt nicht auf eine wirkliche Ordnung, sondern auf eine Steuerung des Chaos durch vorgetäuschte Werte. Es braucht hier nicht betont werden, daß röhrende Hirsche in den deutschen Wohnzimmern das Gegenteil von Kulturbewußtsein bedeuten. Und deshalb kann Gerhardt auch mit Recht klagen, daß

ein stupides bürgertum schon wieder nach der deutschen tradition schreit, und es deutsche tradition als ein verharren in kleinbürgerlicher romantik und getreulicher pflege seines gemütslebens versteht; es ist notwendig, die pranke zu zeigen, sollte man eine besitzen, und es ist notwendig, das leben der dichtung in einer weise zu demonstrieren, die dem wesen der dichtung entspricht. Im anblick der negermasken hat die moderne malerei ihr gesicht verändert, es war nicht mehr möglich, nur aus der abendländischen tradition heraus und fundiert mit diesem wissen, die modernen werke zu verstehen. Es ist heute selbstverständlich, dass primitivkunst, negermasken, indianische sandgemälde etc. in der malerei verarbeitet werden; einzig auf dem gebiet der dichtung ist es dem künstler heute noch versagt, den gleichen fundus von formen und vorstellungen zu gebrauchen. Das kann auch damit zusammenhängen, dass die vorstellungen der dichter und der grössten anzahl der poetischen schriftsteller nicht diejenigen von dichtern sind. Die vorstellungen sind von einem klassischen und traditionellen maass geprägt oder einem maass an den konventionellen dichtungen der letzten 50 oder 70 jahre gewonnen, und man wehrt sich, die bequeme praxis des verseschreibens, nach einem überlieferten schema und mit einem nicht zu musikalischen ohr aufgeben und in das unbekannte land des dichters ausziehen zu müssen. 14)

In diesem - weiterführenden - Programm erkennen wir das Projekt des 'Fragmente-Verlages' und das Inhaltsverzeichnis des ersten Heftes der fragmente: der Pound-Aufsatz, das Gedicht Aimé Césaires, die Übertragungen primitiver Dichtung von Ilse Schneider-Lengyel etc. An diesem erweiterten Traditionsbegriff, der auch Charles Chaplin, indianische Malerei, Keramik und Puppen miteinschließt (vgl. den Verlagsprospekt nach Kapitel 3.5), scheiterte Rainer M. Gerhardt. Sein Programm war in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre nicht durchzusetzen. Ob es heute möglich wäre, sei dahingestellt. Curtius' Kritische Essays zur europäischen Literatur jedenfalls waren ihm eine wesentliche Stütze in seinen Bemühungen. Und Charles Olson, Gerhardts amerikanischer Freund und Partner, konnte erfreut feststellen: »It is damned gratifying to have Curtius the one to spot that usage of, the noun!« 15) So eindeutig hier Curtius' Rezension der fragmente begrüßt wird, so eindeutig wird aber auch das Dilemma Gerhardts in Olsons Rezension von Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter 16) deutlich:»
»It was the young German poet Rainer M. Gerhardt who introduced me to the work of Curtius. I had asked Gerhardt what interest there was in Frobenius, after the war, if men of his generation were digging that morphology. He swore, and answered damn well no, that it was Curtius who was their inspirer.
Now I get it. I should have known. I had sniffed typology in Gerhardt's longish poem, "Brief an Creeley und Olson." In my answer, also a longish poem, "To Gerhardt, There, Among Europe's Things," I had opposed specifics - as much European as American - to his universals of Metropolis. (...)
I don't know whether I had said, but I meant, to Gerhardt, go out the back door of your inheritance. I did say, plant Odysseus' oar, don't worry about Homer's poetics. Curtius, does worry. His book has to do with those greatnesses so that there may be, he says, cultivation of the European tradition.«
17)

Der Zusammenprall europäischer und amerikanischer Auffassung von kultureller Tradition wird in Kapitel 5 dieser Arbeit näher erörtert.

Gegen Ende seiner Würdigung des Curtius'schen Werkes faßt Gerhardt seine Ansicht von Tradition, Kultur und Literatur noch einmal in folgenden Sätzen zusammen:

"Dichtung wird uns im anblick dieser dinge als eine noch grössere, als eine kulturelle arbeit gezeigt, sie ist eine allgemein menschliche disziplin. Ein dichter mag gestimmt werden durch die luft eines besonderen kulturellen raumes, er mag angefüllt sein mit den bildern und wirren dieses raumes, aber sein bewußtsein wird sich über diesen raum erheben und wird seine erfahrungen suchen auch in anderen bereichen. Das abenteuer des geistes hat neu begonnen, es mag vielleicht schon für tot erklärt worden sein. Dichtung ist heute ein lebensgefährliches beginnen, die schreckschüsse der dadaisten sind noch nicht verhallt, und eine furchtbare wahrheit steigt herauf, ein vers von erheiternder pracht und grosser faszination kann morgen das todesurteil seines dichters sein." 18)

Die zweite Säule des Gerhardt'schen Programms ist neben dem Literaturwissenschaftler Ernst Robert Curtius der Dichter Gottfried Benn. In der Rundschau der Fragmente setzt sich Gerhardt mit Benns Werken Ausdruckswelt und Doppelleben auseinander.

"Curtius gab uns die vorstellung von ordnung, die vorstellung und demonstration einer bestimmten und zwingenden ordnung, Benn gibt uns die darstellung einer situation, einer bewusstseinslage, die vielleicht auch nicht mehr die der nachwachsenden jungen generation ist, aber sie ist bewusstseinslage einer grossen generation und der geruch eines raumes, dem auch wir nicht entrinnen können." 19)
 


Anmerkungen:

 
1) Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 10. Aufl., 1984, Seite 9.
2) A.a.O., Seite 11.
3) In: Joachim Moras / Hans Paeschke (Hrsg.): Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 2. Jahrgang 1948, Heft 1, Seite 69-71. - Folgende Anmerkung war der Veröffentlichung beigegeben: »Das Pervigilium Veneris ist die Dichtung eines unbekannten Verfassers aus dem 2. oder 4. Jh. nach Christus. Bürger übersetzte es 1769. Walter Pater hat es in "Marius the Epicurean" behandelt. Die vorliegende Übersetzung, die dem Versmaß des Originals folgt, besorgte Ernst Robert Curtius.«
4) Rainer M. Gerhardt: variationen, in: umkreisung, karlsruhe 1952, Seite 5-6. - Auf diesen kurzen poetischen Dialog wird in Kapitel 3.3.2 eingegangen.
5) Ernst Robert Curtius: Kritische Essays zur europäischen Literatur, Frankfurt/M 1984 (= Fischer Wissenschaft 7350).
6) Rainer M. Gerhardt: Rundschau der Fragmente, Beilage zu 'fragmente. internationale revue für moderne dichtung', Freiburg 1951, Seite 2.
7) Curtius, a.a.O., Seite 8.
8) Gerhardt, a.a.O., Seite 4.
9) Pound schreibt in dem von Gerhardt übersetzten Essay 'wie lesen' (Karlsruhe 1953): »Da wir Philetas verloren haben, und das meiste von Kallimachos, mögen wir annehmen, daß die römer eine gewisse sophisterei hinzufügten (zur griechischen Literatur, FJK); auf jeden Fall Catullus, Ovid, Propertius, alle geben uns etwas, was wir in griechischen autoren jetzt nicht finden können. (Seite 27).
10) Gerhardt, a.a.O., Seite 2-3.
11) Ernst Robert Curtius: Eine neue Zeitschrift: Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden., in: Die Tat, 16, Nr. 195, Zürich, 21.7.1951, Seite 7.
12) Dort zitiert er seine eigene Schrift Deutscher Geist in Gefahr aus dem Jahre 1932: »Wenn es wahr ist (...), daß vor uns dunkle Jahrhunderte und spätere, helle Renaissancen liegen, so folgt daraus, daß der Humanismus von heute weder an die Antike noch an die Renaissance anknüpfen muß. Der neue Humanismus wird also nicht Klassizismus, sondern Mediaevalismus und Restaurationsgesinnung sein müssen.«
13) Gerhardt, a.a.O., Seite 3.
14) A.a.O., Seite 3-4.
15) Charles Olson & Cid Corman: Complete Correspondence 1950-1964, Vol. I, Orono, Maine 1987, Seite 253.
16) Charles Olson: Ernst Robert Curtius, in: Human Universe and other Essays, New York 1967, Seite 155-157.
17) A.a.O., Seite 155.
18) Gerhardt, a.a.O., Seite 4.
19) Ebda.