3.1.1 Ernst Robert Curtius "Mein Buch ist nicht aus rein wissenschaftlichen Zwecken erwachsen, sondern
aus Sorge für die Bewahrung der westlichen Kultur. Es macht den Versuch,
die Einheit dieser Tradition in Raum und Zeit mit neuen Methoden zu beleuchten.
Im geistigen Chaos der Gegenwart ist es nötig, aber auch möglich
geworden, diese Einheit zu demonstrieren. Das kann aber nur von einem universalen
Standpunkt aus geschehen. Diesen gewährt die Latinität." 1)
Einen ersten Kontakt zu Curtius gab es bereits vor 1950: Im ersten Heft des Jahrgangs 1948 der Zeitschrift Merkur erschien Curtius' Übersetzung von Pervigilium Veneris unter dem Titel Die Nachtfeier der Venus. 3) Sie sollte Anstoß sein zu einer poetischen Entgegnung, mit der Gerhardt seinen Gedichtband umkreisung eröffnete: variationen mit der Widmung für Ernst Robert Curtius 4). Das entscheidendere Ereignis jedoch war das Erscheinen von Curtius' Kritische Essays zur europäischen Literatur 5). In seiner programmatischen Beilage zum ersten Heft der fragmente geht Gerhardt ausführlich auf dieses Werk ein. Seiner Auffassung nach hat Kritik heute drei verschiedene Aufgaben: 1. die bewusstseinslage einer sache zu untersuchen, material und formen
als material und formen dieser bewusstseinslage zu deuten,
Immer ging es mir um dasselbe: Europabewußtsein und abendländische
Tradition. Aber mit steigenden Jahren mußte ich tiefer graben, weiter
ausgreifen in Raum und Zeit. Kontinuität wurde mir wichtiger als Aktualität:
Virgil und Dante bedeutsamer, als die Neueren seit Goethes Tode. 7)
"Es mag unser verwundern erregen, dass Vergil die grosse aufmerksamkeit
am eingang des buches gewidmet ist, aber wenn wir fragen, warum nicht Catull
oder Ovid das interesse, das primäre interesse gewannen, und die frage
in erster linie an uns selbst richten, müssen wir antworten, dass
die frage nach der vorherrschaft der genannten dichter Catull, Ovid, Propertius
eine frage ist, die nicht mehr aus dem geistigen raum, genannt Abendland
oder Europa, allein erwächst. Wir legen bereits einen masstab an (oder
haben eine vorstellung eines maasses in uns), der zu anderem als an abendländischer
dichtung geschult und erzogen wurde. Der zug von Homer zu Vergil und weiter
zu Dante und den klassikern der französischen bühne entspricht
einer anderen geistigen haltung als der zug von Homer über die Sappho
zu Ovid, Catull und Propertius und von dort zu den provenzalischen und
toskanischen dichtern, zu Dante, zu Villon, etc. Das maass des Abendlandes,
in der ersten reihe festgehalten durch eine humanistische vorstellung von
einer ordnung, einer staatlichen ordnung, und in einer vorstellung vom
imperium (und darum Vergil) ist grundverschieden vom interesse, der anderen
reihe abgewonnen, und zwar einer sache, die in erster linie nicht durch
ihre idee, ihre für etwas stehende idee, ihre wirkung zeitigt, sondern
durch sich selbst, als kunstgebilde, als ding der dichtung." 10)
"Der zwang zur eigenen ordnung ist eminent. Es erscheint mir heute notwendig, dass solche ordnungen geschaffen werden, und es ist wesentlich, dass solche bücher äusserster geistiger disziplin veröffentlicht werden. Die demonstration einer ordnung, das setzen eines klassischen maasses, gewonnen an Vergil und an Goethe, an der abendländischen ordnung, dargestellt an den dichtern dieses jahrhunderts, verändert eine welt oder schafft eine neue. Sie ist befähigt, eine neue zu schaffen, wenn es ein einsichtiger und befähigter geist übernimmt, den fehdehandschuh aufzunehmen, und alle abgrenzungen zu schaffen, die notwendig sind, um für das heutige schreiben einen nutzen aus diesem buch zu ziehen. Ich meine ein schreiben, das über die ergebnisse von heute - auf grund der erfahrungen dieses buches - hinausgeht." 13) Der Rückgriff auf die abendländische Tradition (sowohl bei Curtius wie bei Gerhardt) hat nur auf den ersten und sehr flüchtigen Blick etwas mit den Restaurationsbemühungen im Nachkriegsdeutschland gemein. Der Traditionsbegriff der fünfziger Jahre zielt nicht auf eine wirkliche Ordnung, sondern auf eine Steuerung des Chaos durch vorgetäuschte Werte. Es braucht hier nicht betont werden, daß röhrende Hirsche in den deutschen Wohnzimmern das Gegenteil von Kulturbewußtsein bedeuten. Und deshalb kann Gerhardt auch mit Recht klagen, daß ein stupides bürgertum schon wieder nach der deutschen tradition schreit, und es deutsche tradition als ein verharren in kleinbürgerlicher romantik und getreulicher pflege seines gemütslebens versteht; es ist notwendig, die pranke zu zeigen, sollte man eine besitzen, und es ist notwendig, das leben der dichtung in einer weise zu demonstrieren, die dem wesen der dichtung entspricht. Im anblick der negermasken hat die moderne malerei ihr gesicht verändert, es war nicht mehr möglich, nur aus der abendländischen tradition heraus und fundiert mit diesem wissen, die modernen werke zu verstehen. Es ist heute selbstverständlich, dass primitivkunst, negermasken, indianische sandgemälde etc. in der malerei verarbeitet werden; einzig auf dem gebiet der dichtung ist es dem künstler heute noch versagt, den gleichen fundus von formen und vorstellungen zu gebrauchen. Das kann auch damit zusammenhängen, dass die vorstellungen der dichter und der grössten anzahl der poetischen schriftsteller nicht diejenigen von dichtern sind. Die vorstellungen sind von einem klassischen und traditionellen maass geprägt oder einem maass an den konventionellen dichtungen der letzten 50 oder 70 jahre gewonnen, und man wehrt sich, die bequeme praxis des verseschreibens, nach einem überlieferten schema und mit einem nicht zu musikalischen ohr aufgeben und in das unbekannte land des dichters ausziehen zu müssen. 14) In diesem - weiterführenden - Programm erkennen wir das Projekt
des 'Fragmente-Verlages' und das Inhaltsverzeichnis des ersten Heftes der
fragmente: der Pound-Aufsatz, das Gedicht Aimé Césaires,
die Übertragungen primitiver Dichtung von Ilse Schneider-Lengyel etc.
An diesem erweiterten Traditionsbegriff, der auch Charles Chaplin, indianische
Malerei, Keramik und Puppen miteinschließt (vgl. den Verlagsprospekt
nach Kapitel 3.5), scheiterte Rainer M. Gerhardt. Sein Programm war in
der ersten Hälfte der fünfziger Jahre nicht durchzusetzen. Ob
es heute möglich wäre, sei dahingestellt. Curtius' Kritische
Essays zur europäischen Literatur jedenfalls waren ihm eine wesentliche
Stütze in seinen Bemühungen. Und Charles Olson, Gerhardts amerikanischer
Freund und Partner, konnte erfreut feststellen: »It is damned gratifying
to have Curtius the one to spot that usage of, the noun!« 15) So eindeutig hier Curtius' Rezension der fragmente begrüßt wird, so eindeutig
wird aber auch das Dilemma Gerhardts in Olsons Rezension von Europäische
Literatur und lateinisches Mittelalter 16) deutlich:»
Der Zusammenprall europäischer und amerikanischer Auffassung von kultureller Tradition wird in Kapitel 5 dieser Arbeit näher erörtert. Gegen Ende seiner Würdigung des Curtius'schen Werkes faßt Gerhardt seine Ansicht von Tradition, Kultur und Literatur noch einmal in folgenden Sätzen zusammen: "Dichtung wird uns im anblick dieser dinge als eine noch grössere, als eine kulturelle arbeit gezeigt, sie ist eine allgemein menschliche disziplin. Ein dichter mag gestimmt werden durch die luft eines besonderen kulturellen raumes, er mag angefüllt sein mit den bildern und wirren dieses raumes, aber sein bewußtsein wird sich über diesen raum erheben und wird seine erfahrungen suchen auch in anderen bereichen. Das abenteuer des geistes hat neu begonnen, es mag vielleicht schon für tot erklärt worden sein. Dichtung ist heute ein lebensgefährliches beginnen, die schreckschüsse der dadaisten sind noch nicht verhallt, und eine furchtbare wahrheit steigt herauf, ein vers von erheiternder pracht und grosser faszination kann morgen das todesurteil seines dichters sein." 18) Die zweite Säule des Gerhardt'schen Programms ist neben dem Literaturwissenschaftler Ernst Robert Curtius der Dichter Gottfried Benn. In der Rundschau der Fragmente setzt sich Gerhardt mit Benns Werken Ausdruckswelt und Doppelleben auseinander. "Curtius gab uns die vorstellung von ordnung, die vorstellung und demonstration
einer bestimmten und zwingenden ordnung, Benn gibt uns die darstellung
einer situation, einer bewusstseinslage, die vielleicht auch nicht mehr
die der nachwachsenden jungen generation ist, aber sie ist bewusstseinslage
einer grossen generation und der geruch eines raumes, dem auch wir nicht
entrinnen können." 19)
1) Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 10. Aufl., 1984, Seite 9. 2) A.a.O., Seite 11. 3) In: Joachim Moras / Hans Paeschke (Hrsg.): Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 2. Jahrgang 1948, Heft 1, Seite 69-71. - Folgende Anmerkung war der Veröffentlichung beigegeben: »Das Pervigilium Veneris ist die Dichtung eines unbekannten Verfassers aus dem 2. oder 4. Jh. nach Christus. Bürger übersetzte es 1769. Walter Pater hat es in "Marius the Epicurean" behandelt. Die vorliegende Übersetzung, die dem Versmaß des Originals folgt, besorgte Ernst Robert Curtius.« 4) Rainer M. Gerhardt: variationen, in: umkreisung, karlsruhe 1952, Seite 5-6. - Auf diesen kurzen poetischen Dialog wird in Kapitel 3.3.2 eingegangen. 5) Ernst Robert Curtius: Kritische Essays zur europäischen Literatur, Frankfurt/M 1984 (= Fischer Wissenschaft 7350). 6) Rainer M. Gerhardt: Rundschau der Fragmente, Beilage zu 'fragmente. internationale revue für moderne dichtung', Freiburg 1951, Seite 2. 7) Curtius, a.a.O., Seite 8. 8) Gerhardt, a.a.O., Seite 4. 9) Pound schreibt in dem von Gerhardt übersetzten Essay 'wie lesen' (Karlsruhe 1953): »Da wir Philetas verloren haben, und das meiste von Kallimachos, mögen wir annehmen, daß die römer eine gewisse sophisterei hinzufügten (zur griechischen Literatur, FJK); auf jeden Fall Catullus, Ovid, Propertius, alle geben uns etwas, was wir in griechischen autoren jetzt nicht finden können. (Seite 27). 10) Gerhardt, a.a.O., Seite 2-3. 11) Ernst Robert Curtius: Eine neue Zeitschrift: Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden., in: Die Tat, 16, Nr. 195, Zürich, 21.7.1951, Seite 7. 12) Dort zitiert er seine eigene Schrift Deutscher Geist in Gefahr aus dem Jahre 1932: »Wenn es wahr ist (...), daß vor uns dunkle Jahrhunderte und spätere, helle Renaissancen liegen, so folgt daraus, daß der Humanismus von heute weder an die Antike noch an die Renaissance anknüpfen muß. Der neue Humanismus wird also nicht Klassizismus, sondern Mediaevalismus und Restaurationsgesinnung sein müssen.« 13) Gerhardt, a.a.O., Seite 3. 14) A.a.O., Seite 3-4. 15) Charles Olson & Cid Corman: Complete Correspondence 1950-1964, Vol. I, Orono, Maine 1987, Seite 253. 16) Charles Olson: Ernst Robert Curtius, in: Human Universe and other Essays, New York 1967, Seite 155-157. 17) A.a.O., Seite 155. 18) Gerhardt, a.a.O., Seite 4. 19) Ebda. |