Augsburger FilmTaschenHefte: Vorwort
Ethan Edwards
läßt Francois Truffaut zu Wort kommen
Wie ein Gedicht lesen?
Über R.M.Gerhardt:
der tod des hamlet


Augsburger FilmTaschenHefte

Die Überführung des Stadtkinos in die gemischtwirtschaftliche Form des Neuen Stadtkinos führt nicht nur zu Veränderungen in der äußeren Erscheinungsform, sondern auch zu neuen Programmperspektiven. In der heutigen oft nur auf den schnellen Konsum gerichteten Kinolandschaft ist eine kurze und sachliche Information des Zuschauers durch ein übersichtlich gegliedertes und gestaltetes Programm unverzichtbar. Dies wird geschehen. Um die vom "normalen" Kinobetrieb abweichenden Aufgaben des Neuen Stadtkinos zu erfüllen, erscheint es uns notwendig, den Kinobesuch durch umfassendere und weitergehendere Darstellungen zu begleiten. Dieser Aufgabe will sich KINEMA widmen.

Das Ziel ist es, eine kleine Filmbibliothek zu schaffen, die dem Interessierten Hilfen anbietet. Neben allgemeinen Themen zu Kino, Film und Filmgeschichte, sollen auch Hefte zu speziellen Themen, z.B. einer Filmreihe, einem Regisseur (Monografien), filmkünstlerischen und technischen Fragen erscheinen.

Die Hefte erscheinen unregelmäßig mit ca. 4 Nummern im Jahr. Der Umfang liegt bei 16-24 Seiten. Der Preis beträgt im Einzelverkauf bei 3 DM. Das Abonnement umfaßt 5 Ausgaben und kostet 12 DM zuzüglich Versand. Die Mitglieder erhalten die Hefte versandkostenfrei. Bestellungen sind an den Verlag zu richten. Kündigungen müssen bis spätestens einen Monat nach Auslieferung des dritten Heftes der jeweiligen Serie erfolgen. Die Auflage ist numeriert. Jeder Abonnent bekommt eine nur ihm zugeteilte individuelle Nummer.

 KINEMA. Augsburger FilmTaschenHefte werden in Zusammenarbeit mit dem Augsburger Filmclub e.V. herausgegeben und sind in erster Linie an die Erfordernisse des Neuen Stadtkinos gebunden. Allerdings ist eine Verbreitung über Augsburg hinaus angestrebt.*)
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*)  veröffentlicht in: KINEMA. Augsburger FilmTaschenHefte, Heft 0, Augsburg, 6. September 1993, Seite 15 - 16.

Inhaltsverzeichnis

Ethan Edwards läßt Francois Truffaut zu Wort kommen *)


Diese Briefe eines Jungen, der heftig darunter litt, nicht schreiben zu können, zeigen, wie das, was man sagt, triumphiert über das, was man nicht sagt, aber sieht. Unser Schmerz sprach, sprach und sprach, aber unser Leid blieb Kino, mithin stumm. François ist vielleicht tot. Ich bin vielleicht lebendig. Es spielt keine Rolle, nicht wahr.  (Jean-Luc Godard)
»Der Tag wird kommen«, an dem jedem Mann Gerechtigkeit widerfahren wird ... auch jedem Kunstschaffenden. Im Falle des Filmemachers bietet die Retrospektive dazu eine gute Gelegenheit. Gut und wichtig ist es, alle Filme in einer tadellosen, unverbrauchten Kopie zu sehen. Wir haben die Möglichkeit, in das Lebenswerk eines Mannes einzudringen, der für den Film gelebt hat.

1

Es war irgendwann im Jahre 1942. Ich wollte unbedingt den Film Les Visiteurs du Soir von Marcel Carné sehen, der endlich in unserem Viertel, im Cinéma Pigalle lief. So beschloß ich, die Schule zu schwänzen. Der Film gefiel mir sehr. Abends kam meine Tante, die am Konser-vatorium Geige studierte, bei uns vorbei, um mich ins Kino mitzunehmen. Ihre Wahl hatte sie schon getroffen: Les Visiteurs du Soir; und da ich auf gar keinen Fall zugeben konnte, daß ich ihn schon gesehen hatte, mußte ich ihn noch einmal sehen und dabei so tun, als entdeckte ich ihn gerade. An diesem Tag wurde mir klar, welchen Reiz es hat, immer tiefer in ein bewundertes Werk einzudringen, bis zu dem Punkt, an dem man sich die Illusion vermitteln kann, seine Entstehung mitzuerleben.

 »...immer tiefer in ein bewundertes Werk eindringen...« Dieses im Fall François Truffaut zu begründen ist überflüssig. Wichtig ist, die Filme mit der gleichen Zuneigung und Bewunderung sehen zu können, die Truffaut (als Kritiker und Regisseur)  dem Werk anderer entgegenbrachte.
 

2

François Truffaut wurde am 6. Februar 1932 in Paris geboren. Er besuchte (wie es so niederträchtig heißt) ‘mit wechselndem Erfolg’ verschiedene Schulen, wobei das Kino die wichtigste war und das ganze Leben lang blieb. Die wesentliche Begegnung der Jugend war die mit André Bazin, dem bedeutendsten Filmkritiker der Nachkriegszeit. Seit 1953 arbeitete er als Kritiker für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften (u.a. »Cahier du Cinéma«). 1955 drehte er seinen ersten Film: »Une Visite«. Mit Jean-Luc Godard, Jacques Rivette, Claude Chabrol und Eric Rohmer gilt er als einer der bedeutenden Vertreter des sog. ‘Cinéma des auteurs’. -  François Truffaut starb am 21. Oktober 1984 in Neuilly-sur-Seine.

Wer war François Truffaut?

Ich bin in erster Linie ein arbeitender Mensch, und ich führe das Leben eines Bürokraten: Ich gehe jeden Tag ins Büro, es sei denn, es ist gerade ein Drehbuch in Arbeit, dann kommen meine Co-Autoren nämlich zu mir nach Hause. Ansonsten habe ich aber meine feste Arbeitszeit. (...) Mein Alltag in Paris ist ganz der Arbeit gewidmet, einer sehr regelmäßigen und undankbaren Arbeit, undankbar deshalb, weil ich vertane und verlorene Zeit hasse und es trotzdem immer wieder dazu kommt, daß ich für das Drehbuch, das ich in sechs Wochen zu beenden hoffte, zwölf Wochen brauche, wodurch alle geplanten Daten wieder über den Haufen geworfen werden müssen, und so hat man immer den Eindruck, in seiner Arbeit behindert zu werden und nicht so viel zu schaffen, wie man eigentlich schaffen möchte.
Ich will mich nicht schlechter machen als ich bin, aber die Arbeit ist mir wichtiger als ich selbst. Auch wenn ich meinen Filmen in diesem Gespräch sehr kritisch gegenüberstand, ist es mir immer lieber, nach meiner Arbeit beurteilt zu werden als nach meinen Ansichten oder nach dem was ich bin.
Wenn man mir sagt, da möchte jemand gern mit Ihnen Essen gehen, anworte ich: Nein, ich gehe nicht essen, ich gehe mit niemandem essen. Bevor es das Fernsehen gab, ging man in Paris sehr oft ins Restaurant, aber das wäre nichts für mich gewesen. Ich bleibe abends lieber zu Hause, ich sehe mir das Fernsehprogramm an oder suche mir einen Videofilm aus. Ich könnte mich, glaube ich, nur als Star fühlen, wenn es die entsprechenden gesellschaftlichen Anlässe gäbe und wenn ich auf Empfänge und Parties gehen würde, aber genau das tue ich eben nicht, außer (...) wenn ich ins Ausland fahre, um in irgendeinem Land einen Film vorzustellen. Aber auch das ist im Grunde noch ein Teil meiner Arbeit, denn ich bin nie als Tourist unterwegs.
 

3

Was ist ein (Film-)Kritiker?

 War ich ein guter Kritiker? Ich weiß es nicht; ich weiß aber, daß ich immer auf der Seite der Ausgepfiffenen gegen die Auspfeifer war und daß mein Vergnügen oft da anfing, wo das meiner Kollegen aufhörte: bei Renoirs Stilbrüchen, bei Orson Welles´ Exzessen, bei Pagnols oder Guitrys Schlampereien, bei Cocteaus Anachronismen, bei Bressons Nacktheit. Ich glaube, meine Neigungen waren frei von Snobismus, und mir gefiel Audibertis Satz: »Das unverständlichste Gedicht richtet sich an die ganze Welt«; ich wußte, daß alle Filme, die kommerziellen und die anderen, dem Kommerz unterworfen, Gegenstand von Kauf und Verkauf sind. Es gab für mich Gradunterschiede zwischen ihnen, aber keinen Wesensunterschied, ich hegte für Singin´ in the Rain von Kelly-Donen dieselbe Bewunderung wie für Ordet von Dreyer.

 Wenn es jemanden gibt, der über Truffaut-Filme reden darf, dann ist es François Truffaut, da er mit der gleichen Liebe Filme macht und über sie schreibt. Mit Desinteresse und Widerwillen ins Kino gehen ist das Geschäft der meisten Filmkritiker. Konfrontieren wir seine Sicht der Dinge mit der unseren, wenn wir seine Filme sehen. Vielleicht können wir so zu tieferen Einsichten kommen.

 Seit ich Regisseur bin, habe ich mich immer bemüht, nicht allzu lange mit dem Schreiben übers Kino auszusetzen, und die Praxis dieses doppelten Spiels gibt mir heute den Mut, die Situation aus ein wenig erhöhter Perspektive zu betrachten, wie ein Fabrice, der Gelegenheit hätte, Waterloo im Hubschrauber zu überfliegen.
 

4

Einen Film drehen, das ist wie eine Kutschenfahrt durch den Wilden Westen. Zu Beginn hofft man noch auf eine schöne Reise. Und sehr bald fragt man sich, ob man wohl am Ziel ankommen wird. (»Die amerikanische Nacht«)
 

Wie macht man Filme? Kann man den Beruf des Regisseurs erlernen? Gibt es eine kritische Distanz zu den eigenen Filmen? Was soll man einem Anfänger raten?

 Sehr leicht einsehbar ist es, wenn ein junger Mensch mit sehr umfassenden Filmkenntnisen, differenzierte Kriterien entwickelt und früher oder später versuchen wird, Filme, die ihm wichtig sind, anderen Menschen zu empfehlen. Der Beruf des Kritikers wartet auf ihn. - Wie aber kommt der Kritiker dazu, Filme zu drehen, wie kann er diesen >neuen< Beruf lernen?

 Indem man erst einmal drauflosfilmt und dann herauszufinden versucht, warum etwas mißlungen ist, warum etwas nicht funktioniert. Dann sagt man sich: Nein, das hätte ich so machen müssen und nicht so, hier hätte ich mit der Kamera nicht zurückgehen dürfen, sondern in der Naheinstellung bleiben müssen, hier hätten wir innen drehen sollen statt außen, hier hätte es Nacht sein müssen statt Tag. Dadurch, daß man seine eigene Arbeit kritisch unter die Lupe nimmt, schmiedet man sich eine Art Kodex, der einem hilft.

 Truffaut war nicht der Mann, der sich bei der Arbeit allein auf sich verlassen hätte; seine Mitarbeiter, von denen er immer wieder mit großer Hochachtung spricht, sind für ihn unverzichtbar:

 Der Toningenieur kritisiert meine Stimme, und dann ist da natürlich Suzanne Schiffmann, meine engste Mitarbeiterin. Wenn ich selbst in einem Film mitspiele, mache ich es natürlich wie die Schauspieler auf der ganzen Welt: Sobald eine Aufnahme beendet ist, suche ich den Blick einer Bezugsperson, es muß jemand da sein, den ich ansehen kann. In meinem Fall ist das Suzanne Schiffmann, ich suche ihren Blick, um zu sehen, ob sie zufrieden war oder ob sie doch eher der Ansicht ist, daß wir die Sache noch einmal drehen. Wenn es Zweifel gibt, gehen wir hinüber zum Tonmann und hören uns die Sprachaufnahme an.  (...)

 Ich bespreche die Sache mit Nestor Almendros und sehe noch nicht einmal durch die Kamera; ich verlasse mich ganz auf ihn, auch was die Länge einer Aufnahme betrifft.

 Fehler sind unvermeidbar; fehlerlose Filme gibt es nicht. Aber es gibt (vielleicht) eine Möglichkeit, aus Fehlern zu lernen: neue Fehler machen, um den alten auzuweichen...:

 Wissen Sie, was hochinteressant wäre? Wenn ein Regisseur ein Remake eines seiner eigenen Filme machen würde! Ich glaube, er würde dabei wieder Fehler machen, aber sicher nicht mehr die gleichen wie beim ersten Mal. Während der Dreharbeiten, in einer Drehwoche und sogar an einem einzigen Drehtag müssen dermaßen viele Entscheidungen der verschiedensten Art getroffen werden, daß es einem Regisseur meiner Ansicht nach unmöglich ist, mit seiner Arbeit nach einer gewissen Zeit wirklich  zufrieden zu sein: Das eine gefällt einem, das andere bereut man, daß alles gar nicht so fließt und gleitet, wie man es sich vorstellte, und daß sich die Homogenität und Harmonie, die man sich wünschte, gar nicht einstellen mag. Dann sagt man sich: Wie konnte ich so etwas überhaupt durchgehen lassen? Und das tut weh. Das muß den anderen, die sich nicht mit der Ausführung beschäftigt haben, nicht einmal auffallen, denn jeder setzt ja eine Übereinstimmung zwischen den Intentionen des Regisseurs und dem, was man auf der Leinwand sieht, voraus.

 Wenn nach zwei Dutzend Filmen die Schwierigkeiten, einen Film zu schaffen, nicht ab-, sondern augenscheinlich zunehmen, müsste ein Anfänger eigentlich resignieren. - Was könnte man ihm raten?

 Das käme vor allem darauf an, in welche Richtung jemand tendiert. Ich interessiere mich eindeutig mehr für die Charaktere als für die Kamera, denn die Arbeit mit der Kamera richtet sich immer nach dem anderen; im Moment des Drehens wird man immer sehen, was die jeweilige Szene an Kamerabewegung und -positionen verlangt, also gilt: Die Charaktere stehen an erster Stelle, nicht etwa die Handlung.
 In den USA lautet das Motto: An erster Stelle steht die Action. Dort wird eine Szene herausgeschnitten, wenn sie die Handlung nicht weiterbringt oder keine Action enthält. In Europa geht man nicht so vor. Deshalb können die Amerikaner meiner Meinung nach auch keine guten Liebesfilme drehen. Ihre Spezialität ist die Action. Wir Europäer verstehen uns eher auf Charakterzeichnung, wir scheuen uns ein wenig vor Action um jeden Preis, wodurch in unseren Geschichten oft nicht genug passiert. Aber dafür fällt es uns leichter, dreidimensionale oder einigermaßen lebendige Figuren zu schaffen. Ich glaube, darauf sollte man sich konzentrieren.
 Nein, ich wüßte nicht, was ich einem Anfänger sonst sagen sollte. Seit fünfzehn oder zwanzig Jahren hat man die Bedeutung des Drehbuchs unterschätzt, daber das ist heute ein Allgemeinplatz, alle sind sich längst über diesen Punkt einig.
 1960 gab es einen Plan, Regieanfängern nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch ‘auf die Beine’ zu helfen mit einem Gemeinschaftsunternehmen:

 Ich kenne so viele junge Typen, die trotz großen Talents noch nichts gemacht haben, daß mir die Idee kam (...), einen Episodenfilm zu produzieren, bei dem jede Episode von einem Anfänger gedreht werden würde, unter meiner Gesamtleitung. Ich suche noch nach einem Thema; ich denke zum Beispiel an sechs Erzählungen von Edgar Poe, denn der ist ein Genie, und seine Außergewöhnlichen Geschichten, großartig übersetzt von Baudelaire, sind in der Tat außergewöhnlich. Ich kann mich noch nicht recht entscheiden, aber die Sache scheint mir einen Versuch wert, denn Kurzfilme sind schön und gut, aber nur schwer an den Mann zu bringen. Eine andere Möglichkeit wäre, daß jede Episode zwar von einem Neuling gedreht wird, aber jedesmal unter der künstlerischen Leitung eines anderen bekannten Regisseurs - Godard, Malle, Astruc usw. Das würde dem Unternehmen einen brüderlichen, sogar ein wenig polemischen gegen die „Alte Welle" gerichteten Aspekt verleihen, der mir ganz gut gefallen würde. Kurzum, man muß kämpfen, denn jetzt, da die Tür einen Spalt offen steht, sollten wir auch unsere Freunde hereinbringen, ehe es zu spät ist!

 Der Plan wurde weiterverfolgt, konnte dann allerdings nur in Ansätzen verwirklicht werden.

Was mir am Kino am meisten Spaß macht, sind die Szenen, die der Regisseur für völlig normal hält, die aber für alle anderen total verrückt wirken.
 

5

Das Drehbuch steht im Zentrum. Von einigen Truffaut-Filmen gibt es »Cinéromane« ), eine Gattung, die man bei uns vergeblich sucht. Literatur, Bücher spielen in seinem Werk eine bedeutende Rolle, immer wieder wird auf sie verwiesen. Wichtiger als die Technik ist das Wort.

Ich weiß nicht, wie Jacques Rivette inzwischen dazu steht, aber ich habe heute zu diesem Punkt die gleiche Meinung wie vor dreißig Jahren: Wenn man eine literarische Vorlage für die Leinwand bearbeitet (was vielleicht einfacher, aber auch verwegener ist als das Schreiben eines Originalstoffes), sollte in dem Film auch zu spüren sein, weshalb man das Buch so liebt. Und wenn die Vorlage sich durch ihren Stil auszeichnet, dann glaube ich, daß man an einigen Stellen den Text bewahren muß, wie es etwa bei einer getreuen Verfilmung von Le Diable au corps der Fall sein müßte, denn in diesem Buch finden sich dichterische Bilder, die viel zu außergewöhnlich sind, als daß man sie in Dialoge packen könnte.
 Ich würde sagen, ich habe mehr auf das Drehbuch geachtet als auf die Technik, die Umsetzung. Bei Zusammenstellen einiger meiner Kritiken für den Textband
Les Films de ma vie fiel mir jedenfalls auf, daß das, was in meiner Zeit als Filmkritiker bereits auf meinen späteren Beruf als Regisseur hindeutete, hauptsächlich solche Beobachtungen waren, die sich auf die Drehbuchkonstruktion bezogen. Wenn ich mir Filme wie Baby Doll oder East of Eden ansah, achtete ich vor allem auf die Anzahl der Szenen, und ich teilte die Regisseure ein in die, die mit wenigen Szenen arbeiteten, und die, die mit vielen Szenen arbeiteten. Auch die Frage der filmischen Einheit beschäftigte mich: In einem Film wie Mr. Arkadin bildete die einzelne Einstellung die Einheit, in anderen war es der ganze Film, in wieder anderen die einzelne Sequenz. Diese Art von Beobachtungen waren es also, die mich interessierten, Beobachtungen ästhetischer Art, die sicher auch etwas mit der Umsetzung zu tun hatten, aber eher mit der Erzähltechnik als mit der Kameratechnik. Letzteres kam erst später, als ich begann, selbst Filme zu drehen, und dadurch mußte ich einen Teil meiner Urteile von früher revidieren: Einige der Filme, die ich bis dahin bewundert hatte, sanken in meiner Achtung, andere dagegen bewunderte ich plötzlich um so mehr.
 

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Wenn die (Film-)Sachen mit Liebe angegangen werden, wieviel mehr dann die Menschen. In keinem anderen Filmwerk kann man Kindern begegnen, die mit mehr Liebe und Zuneigung ‘ins Bild gerückt’ werden als im dem Truffauts.
 

Ich liebe es, Filme mit Kindern zu machen, wogegen es viele Regisseure gibt, die mit Kindern überhaupt nicht arbeiten mögen, und deshalb habe ich drei oder vier Filme mit Kindern gedreht. Und dann liebe ich natürlich Filme über die Gefühle zwischen Männer und Frauen.
 - Dazu später...!

 Bereits seine ersten längeren Spielfilme (Les Mistons und Les 400 Coups), waren Filme mit Kindern, keine ‘Kinderfilme’ - das ist etwas anderes. Bei dieser Arbeit wurde ihm klar, daß die Kinder und ihr Verhalten praktisch ein Sujet für sich bildeten, das letztlich sogar das bessere war.
 Das hat mir also sicher bei der Entscheidung geholfen, mich in Les 400 Coups ganz auf Antoine Doinel zu konzentrieren und allenfalls noch auf seinen Freund, die Erwachsenen dagegen eher im Hintergrund zu lassen. Ich wollte den Erwachsenen nicht den gleichen Raum geben wie den Kindern.  (...)
 Mit Kindern arbeiten ist ähnlich, als drehe man mit einem Hubschrauber. Wenn man Aufnahmen aus einem Hubschrauber vorbereitet, hat man anfangs den Eindruck, es würde nie klappen, denn man verliert enorm viel Zeit, um die Kamera zu installieren, sie am Hubschrauber zu befestigen und so weiter, aber ist man einmal in der Luft, geht alles plötzlich wie geschmiert, und man gewinnt unterm Strich eine Menge Zeit. Genau so ist es auch mit Kindern: Man muß sich sehr viel Zeit mit ihnen lassen, aber diese Zeit holt man später wieder auf.

 

Außerdem: Wenn ein Kind eine Szene gut hinkriegt, hat es sie im Vergleich zu dem, was im Drehbuch stand, fast immer erheblich verbessert, und zwar in stärkerem Maße, als ein Erwachsener dies schafft. Bei erwachsenen Schauspielern ist es immer ein wenig besser oder ein wenig schlechter als im Drehbuch, es verändert sich eigentlich wenig im Vergleich zum Drehbuch; bei Kindern dagegen kann man entweder die vier Seiten, die man da geschrieben hatte, gleich ganz vergessen und muß sich etwas anderes ausdenken, oder das, was sie liefern, ist viel besser als das, was man erwartet hatte. Man muß die Kinder immer als Mitarbeiter, als Co-Autoren des Films betrachten.
 
 

7

Ein uraltes Thema, eine uralte Geschichte ... :
 

Man hegt immer den etwas naiven Wunsch, etwas vielleicht nicht gerade Revolutionäres, aber doch etwas Neues auf die Leinwand zu bringen, auf alle Fälle etwas, das man so noch nicht im Kino gesehen hat. Daran zu glauben, hilft ungemein und sorgt für den notwendigen Enthusiasmus. Bei Le Peau douce zum Beispiel habe ich mir gesagt: Das ist eine Ehebruchsgeschichte, und davon hat man schon zweitausend im Kino gesehen, aber normalerweise wird darin die Ehefrau zur Nebenfigur degradiert, die Geliebte steht im Vordergrund, die Geliebte strahlt Sinnlichkeit aus und die Ehefrau nicht, also werde ich es genau anders herum machen und zeigen, daß die Beziehung zu der Jüngeren eher intellektueller Natur ist, daß Männer eines gewissen Alters gern ein Mädchen kennenlernen wollen, das sie wie eine Tochter behandeln können, und daß in Wirklichkeit die Beziehung zu seiner Ehefrau, die er im Begriff ist zu verlassen, eine sehr sinnliche ist. So gesehen erschien mir die Geschichte originell; ich bin nicht sicher, ob es mir gelungen ist, das auch in dem Film auszudrücken, aber das war jedenfalls die Idee.

 Bei Jules et Jim war die Idee: Wir zeigen eine Frau zwischen zwei Männern, und wir werden verhindern, daß der Zuschauer einen der beiden netter findet als den anderen. Ich wußte, daß mir das großen Spaß machen würde, denn wenn in einem Hollywood-Film eine Frau zwei Männer liebte, dann war einer davon Gary Grant, und man wußte von vornherein, man wollte, daß sie sich am Ende für ihn entschied! Eigentlich gibt es zu Anfang bei jedem Film ein Konzept dieser Art.

»Meine liebe Catherine, vor vielen Jahren habe ich einmal eine chinesische Komödie gesehen, an die ich mich jetzt oft erinnere. Als der Vorhang aufging, kam der Kaiser und wandte sich zum Publikum mit den Worten: „Ich bin der bedauernswerteste Mensch der ganzen Welt, denn ich besitze zwei Frauen: meine Lieblingsfrau und eine Nebenfrau."«
 
 
 

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Einer, der immer wieder auftaucht, ist Jean-Pierre Leaud - und nicht nur in der Gestalt des Antoine Doinel.
 

Ich betrachte die Doinel-Filmreihe als ein sehr eigenartiges Phänomen. Entstanden ist sie rein zufällig, es war von mir nie geplant, mehrere Filme um die Figur des Antoine Doinel zu drehen. Es gab den ersten, Les 400 Coups, und dann, als ich Jules et Jim beendet hatte, bekam ich das Angebot, einen Beitrag zu einem Episodenfilm beizusteuern. Ich wußte nicht genau, was ich machen sollte, und dann überlegte ich mir, daß es nicht schwer sein könnte, mit Jean-Pierre etwas zu improvisieren und den Kurzfilm in einer Woche abzudrehen. So kam es also zu der Episode Antoine et Colette für den Film L´Amour à vingt ans. Und diese Episode kam so gut an, daß wir uns sagten: Wir hätten noch viel mehr Spaß haben können und uns nicht nur eine Woche, sondern einen ganzen Monat lang mit einer richtigen Fortsetzung beschäftigen sollen! Das gab den Anstoß für Baisers volés. Der war dann so überaus erfolgreich, daß der nächste Teil, Domicile conjugal, nur eine Frage der Zeit war.

 Mit L´Amour en fuit beendet François Truffaut den Zyklus der Antoine Doinel-Filme: ... vielleicht ist dieser Film ja wirklich etwas makaber! Es gibt darin einen verzweifelten Optimismus, der völlig willkürlich ist. Aber ich wollte es so. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war, die Sachen so zu verhackstücken.
 

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Ein recht seltsames Volk scheinen die Schauspieler zu sein: Verrückt und anfällig für Größenwahn, haben sie offensichtlich den Kontakt mit der Wirklichkeit verloren.  Aber auch hier, wenn Truffaut über diese verschrobene Spezies schreibt, finden wir hinter dem spöttischen Ton Zuneigung und Verehrung:

 Jeanne Moreau wird in der Tat um den 20. dieses Monats nach New York kommen, keine Ahnung, mit welchem Macker ). Ich habe ihr von Ihnen [Hélène Scott, E.E.] erzählt, und sie würde sich freuen, Sie kennenzulernen; vielleicht werden Sie von ihr enttäuscht sein, denn ich habe gemerkt, daß Sie sich immer noch gehörige Illusionen machen, was Unterhaltungskünstler, Schauspieler und Stars angeht. Da soll einem dieser Beruf nicht zu Kopfe steigen! Dauernd muß man sich über die anderen erheben, was im Grunde darauf hinausläuft, sie herabzusetzen; anfangs handelt es sich noch um eine Berufung, einen recht unschuldigen Ehrgeiz, genau so gut zu sein wie der andere, dann besser zu sein als der andere, und schließlich, den anderen fertig zu machen; die Stars sind traurig, aber von einer widerwärtigen Traurigkeit. Die Stars leiden, weil alle ständig etwas von ihnen wollen; aber wenn man nichts mehr von ihnen will, ist es noch schlimmer. Sie überlegen sich acht Stunden am Tag, wie sie sich von den Menschen fernhalten können, und müssen dann so tun, als könnten sie sämtliche menschlichen Gefühle ausdrücken. Ich versichere Ihnen, es gibt da keine Ausnahme.
 

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Einer der schönsten Filme Truffauts ist ein Buch:

François Truffaut (unter Mitarbeit von Helen C. Scott): Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? - Aus dem Französischen von Frieda Grafe und Enno Patalas. Mit 227 Abbildungen. - Zuerst erschienen im Carl Hanser Verlag in München im Jahre 1973. - Später erschienen mehrere Taschenbuchausgaben.

 Ich mache eine Hitchcock-Phase durch; jede Woche sehe ich mir zwei oder drei seiner Filme noch einmal in Wiederaufführung an; kein Zweifel, er ist der Größte, der Vollständigste, der Lehrreichste, der Schönste, der Stärkste, der Experimentierfreudigste, ein Schoßkind des Glücks, er hat die Gnade.   (28.10.1961)

 Am 2. Juni 1962 schreibt Truffaut an Hitchcock, den er beits 1954 kennengelernt hatte, und teilt ihm seinen (Arbeits-)Plan mit: Ein einziges, sehr ausführliches und chronologisches Interview.
(...)
 In einer von mir zu schreibenden Einleitung würde ich in etwa folgendes Resümee ziehen: Wenn das Kino von heute auf morgen wieder ohne Tonspur auskommen müßte und wieder zu einer stummen Kunst werden würde, wäre ein Gutteil Regisseure zur Arbeitslosigkeit verurteilt, unter den Überlebenden aber wäre Alfred Hitchcock, und alle Welt würde endlich begreifen, daß er der beste Regisseur der Welt ist.

 An Helen Scott schreibt er: Ich bin ganz begeistert von diesem Projekt, und da ich schon öfter mit Hitchcock geplaudert habe, weiß ich, daß ich keine Enttäuschung erleben werde; sein Talent ist keine Frage des Instinkts, wie beispielsweise bei Preminger; wie kein zweiter Regisseur begreift er seine Filme gleichermaßen als Unterhaltung und als Ausdruck einer persönlichen Handschrift. So wie das Balthus-Projekt für mich nur ein Vorwand ist, um ruhig und lange seine Bilder zu betrachten und dabei doch als Filmemacher nicht untätig zu sein, ist dieses Buch über Hitchcock nur ein Vorwand, um etwas lernen zu können.  (...)
 Ich möchte, daß alle Leute, die Filme machen, irgend etwas daraus lernen können, ebenso auch all jene, die Lust haben, Filme zu machen.

 Lieber Mr. Hitchcock, als Sie sich bereit erklärten, dieses Buch mit mir zu machen, war das für mich ein großer Vertrauensbeweis; die Woche, die ich in ihrer Gesellschaft verbringen durfte, war faszinierend - sehr intensiv, sehr lebendig und sehr lehrreich. Außerdem habe ich mich gefreut, auch Madam Hitchcocks Bekanntschaft zu machen. (17.9.1962)

 Wenn man - in der Zeit Ingmar Bergmanns - die Vorstellung akzeptiert, daß das Kino der Literatur ebenbürtig sei, so muß man Hitchcock den Künstlern der Angst, wie Kafka, Dostojewski und Poe, zuordnen - doch warum überhaupt zuordnen?
 Diese Künstler der Angst bieten uns natürlich keine Lebenshilfe, zu leben erscheint ihnen schwer genug, aber ihre Mission ist, uns an ihren Ängsten teilnehmen zu lassen. Dadurch helfen sie uns, seis vielleicht auch unbeabsichtigt, uns besser zu ver-stehen, ein grundlegendes Ziel eines jeden Kunstwerkes.

 Das Buch begleitete Truffaut sein ganzes weiteres Leben. Noch kurz vor seinem Tod erarbeitete er 1983 eine >Edition définitive<.
 

links: Jean-Luc Godard, François Truffaut, Louis Malle: Cannes, Mai 68

Einladung zu einer Sitzung des Komitees zur Verteidigung der Cinémathèque; April 68
 
 
 
 

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... Ach, ich weiß nicht. Da muß man vorsichtig sein. Bei ihm weiß man das nie so genau. Er hat eine bestimmte Periode hinter sich. Heute interessiert er sich sehr für Videosysteme, weil er meint, daß dies die kommenden Möglichkeiten des Films sind. Aber er kann auch jederzeit seine Meinung ändern und wieder Filme drehen. Man weiß es eben nicht.

 Jeder von uns hat sich auf seine Weise entwickelt. Aber ich glaube nicht einmal, daß diese Entwicklungen große Überraschungen geboten haben. Wenn man sich ansieht, welche Filme jeder von uns zuerst gedreht hat, welche Filme er mochte, was für Artikel er geschrieben hat, dann hätte man diese Entwicklung gut voraussehen können. Es ist ganz natürlich, daß sich die Unterschiede zwischen uns mit der Zeit akzentuiert haben. Damals konnten wie vier uns in einen Raum einschließen und - sagen wir mal - ein Drehbuch für Rivette schreiben oder eins für Chabrol. Aber es ist ja ganz klar, daß man nach ein paar Filmen deutlicher seine eigene Linie hat.
 

Eine ‘Auseinandersetzung’ im Mai-Juni 1973

 »Gestern habe ich mir La Nuit américaine angesehen. Wahrscheinlich wird dich niemand Lügner nennen, also tue ich es. Das ist keine größere Beleidigung als Faschist, es ist eine Kritik. (...) Du sagst: Filme sind wie große Züge in der Nacht, aber wer nimmt den Zug, in welcher Klasse sitzt man, und wer ist es, der den Zug steuert, mit dem "Spitzel" von der Direktion am seiner Seite? Auch diese Leute machen Filme, die wie Züge sind. Und wenn Du nicht vom TEE redest, dann vielleicht vom Vorortzug oder dem von Dachau nach München, deren Bahnhöfe man in dem Zug/Film von Lelouch natürlich nicht zu sehen bekommt. Lügner, denn die Einstellung von Dir und Jacqueline Bisset neulich abends bei Francis fehlt natürlich in Deinem Film, und man fragt sich, warum der Regisseur der einzige ist, der in La Nuit américaine nicht bumst.«

Jean-Luc Godard

»Was Du von La Nuit américain denkst, ist mir absolut egal, aber was ich so jämmerlich finde, ist, daß Du immer noch nicht aufgehört hast, Dir solche Filme überhaupt anzusehen, Filme, deren Inhalt Du schon im voraus kennst und die weder Deiner Vorstellung von Kino, noch Deiner Lebensanschauung entsprechen. (...) Du hast Dein Leben verändert, Dein Denken, und trotzdem verschwendest Du Deine Zeit damit, Dir im Kino die Augen zu verderben. Warum? Um noch mehr Gründe zu finden, uns alle zu verachten? Um Dich in Deinen neuen Gewißheiten selbst zu bestätigen?«
 

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When Mr. Hitchcock was asked if he was interested in television, he replied: "Only half."

 Ich sehe leidenschaftlich gern fern, ich liebe jede Art von Sendung, aber ich konnte bis jetzt noch nicht die künstlerische Seite des Fernsehens entdecken. Das bedeutet, ich akzeptiere das Medium als Informationsquelle, ich sehe mir beispielsweise mit großem Vergnügen Sendungen über Schriftsteller an, zumal es darin ja wieder um Literatur geht. Aber ein Film ist für mich ein Gegenstand, und es fällt mir schwer, das Produkt Fernsehen als Gegenstand zu betrachten. Das mag daran liegen, daß ich mit dem Kino und nicht mit dem Fernsehen groß geworden bin, jedenfalls hänge ich an der Vorstellung, daß ein Film in zehn, zwölf Filmbüchsen paßt. Ich weiß nicht, ob der Vergleich etwas taugt, aber ein Hobbyfotograf, der es gewohnt ist, seine Filme zum Entwickeln zu bringen und nach acht Tagen wieder in den Laden zu gehen, um seine fertigen Fotos abzuholen, wird kaum etwas mit einer Sofortbildkamera anfangen können. Ich selbst zum Beispiel habe keinen Spaß an Polaroids, es ist einfach nicht das gleiche. Der Vergleich hinkt vielleicht etwas, aber aus einem ähnlichen Grunde fällt es mir schwer, einen Fernsehfilm als richtigen Film anzusehen. Ich empfinde einen Fernsehfilm nicht als Objekt, er wird einmal ausgestrahlt und damit hat sich´s, man hat den Eindruck, er bleibt in diesem Kasten gefangen. Nun weiß ich sehr wohl, daß ein Film aus Zelluloid ein anachronistisches Objekt ist, denn es ist nicht normal, daß ein Film achtzig Jahre nach Erfindung des Kinos noch immer das gleiche Gewicht hat. Ein Regisseur, der einen Film mit einer Länge von über zwei Stunden gemacht hat, ist immer noch nicht in der Lage, in alleine zu tragen -, verstehen Sie? Es muß ihm jemand beim Tragen helfen, und das halte ich angesichts des Zivilisationsstandes, den wir erreicht haben, für nicht normal. Das ist einer der Gründe, weshalb ich Jacques Rivette immer anflehe, bei seinen Filmen unter 130 Minuten zu bleiben: Wenn du deinen Film nicht mehr selber tragen kannst, kann etwas nicht stimmen.
 

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Politik!
Anfang 1967 schreibt François Truffaut einen Brief an das Centre National de la Cinematographie:

 Ihre Unterlagen, in denen Sie mir verschiedene Ehrenauszeichnungen anbieten, habe ich dankend erhalten. Da mir die Aussicht auf eine Auszeichnung dieser Art gar nicht behagt, werde ich jedoch die Fragebogen nicht ausfüllen.
 Preise, mit denen dieser oder jener meiner Filme bedacht wird, akzeptiere ich gerne; wenn ich aber nicht als Regisseur, sondern als Staatsbürger angesprochen werde, liegt der Fall völlig anders, denn diese Rolle habe ich nie gespielt, nicht einmal als Wähler. Da ich also keinerlei Bürgersinn habe, wäre es, wie sie begreifen werden, sehr unehrlich von mir, irgendeine staatliche Auszeichnung anzunehmen.

 

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Riten - ein notwendiges ‘Hilfsmittel’ ... ?

Oh, ich liebe alles Rituelle, denn das steht im Einklang mit mise en scène, ganz sicher. Das gefällt mir so in den Filmen von Lubitsch, und das hat Stroheim mit Lubitsch gemeinsam: Man ist immer am Hofe von Soundso in irgendeinem imaginären Land, und deshalb gibt es immer irgendwelche livrierten Diener, die den Leuten die Türen öffnen und so weiter. Das ist ja schon eine erste mise en scène, und diese erste mise en scène hilft mir bei meiner eigenen, und deshalb würde ich eines Tages - obwohl ich nicht sehr religiös bin - gern einen Film machen, der in einem Kloster spielt. Denn es gibt Umgebungen, die ihre eigene mise en scène bereits beinhalten, und das ist sehr inspirierend. Wenn Sie einem Schauspieler eine Schallplatte geben, die er in der Szene auflegen kann, wird er nach der Musik spielen, er schwebt auf Wolken und wird nicht gehen, sondern tanzen. So ähnlich ist das auch mit dem Regisseur.
Ein Widerspruch zu all dem ist, daß ich während der Dreharbeiten zu
Fahrenheit 451 beschlossen habe, nie mehr einen Film mit Menschen in Uniform zu drehen, denn diese Feuerwehrleute, die alle gleich angezogen waren, deprimierten mich kolossal. Also habe ich mir gesagt, nie mehr Uniformen, und seitdem lasse ich die Finger von Soldaten. Wenn die Feuerwehrleute in Fahrenheit 451 ein Haus oder eine Wohnung betreten, muß man das natürlich anders inszenieren, als handle es sich um Bauern, die in die Dorfkneipe kommen. Man muß sie in einer bestimmten Anordnung auftreten lassen, es gilt sofort, eine Hierarchie aufzustellen, denn selbstverständlich verlangt der Beruf dieser Leute das Beachten von bestimmten Ritualen.
 

15

Was darf gezeigt werden?

Wenn man sagt, man kann alles zeigen oder man sollte alles zeigen, wer ist damit gemeint, der Filmemacher oder das Kino? Mit dem, was der eine Regisseur nicht zeigen kann, hat ein anderer womöglich keinerlei Schwierigkeiten. Es ist nicht nur eine Frage des Stils, es geht auch um ein Gepür für das, was man filmt. Außerdem weiß ich gar nicht, ob es interessant wäre, alles zu zeigen, denn eine Mischung aus Verbergen und Zeigen ist doch viel spannender. Die Frage stellt sich mir also gar nicht. Natürlich gibt es Dinge, bei denen es mich erst einmal Überwindung kostet, sie auf die Leinwand zu bringen. Anfangs fiel es mir sogar schwer, den Tod zu zeigen. Das war sicherlich auch ein Grund, weshalb ich einen Film wie Tirez sur le pianiste gemacht habe: Die Romanvorlage lieferte mir Extremsituationen, die mich zwar filmisch reizten, die ich aber nie selbst zu erfinden gewagt hätte. Zum Beispiel gibt es in dem Film die Szene, in der die Ehefrau kurzerhand das Fenster öffnet und sich in den Tod stürzt. Das waren im Buch ein oder zwei Seiten, und das gefiel mir sehr, ich sagte mir: Es steht im Roman, also kann ich es machen. Ich hätte nie gewagt eine solche Szene in ein Originaldrehbuch einzubauen. Ich erinnere mich noch gut, wann ich das erstemal in einem Originalstoff jemanden habe sterben lassen: Das war in Baisers volés, die Szene, wenn der alte Detektiv stirbt, aber es ist bezeichnenderweise ein natürlicher Tod, niemand tut ihm etwas, er ist mitten in einem Telefolgespräch. Den Moment selbst sieht man nicht, man hört nur den Sturz, alle laufen zu ihm und stellen fest, der Mann ist tot. Sein Chef nimmt den Telefonhörer (der Typ am anderen Ende redet immer noch) und sagt: Sie können auflegen, Monsieur Henri ist soeben gestorben. Aber auch das habe ich mir nicht ausgedacht, denn ein berühmter russischer Regisseur ist auf diese Weise gestorben, mitten in einem Telefongespräch!
Jedenfalls weiß ich noch, daß ich am Abend dieses Drehtages von
Baisers volés sehr glücklich war, denn ich sagte mir: Es ist vollbracht, ich habe den Tod gefilmt! Ich hatte das Gefühl, einen Schritt nach vorn getan zu haben.
 

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Und immer wieder ... das KINO ... ohne Ende

Ich habe Filme immer in einem Zustand von Schuldbewußtsein gesehen. Weil ich ins Kino ging, anstatt in die Schule. Oder ich sah mir abends Filme an, wenn meine Eltern im Theater waren oder überhaupt ausgingen. Ich verschwand dann gleich nach ihnen, aber ich mußte wieder vor ihnen zuhause sein, mußte wieder im Bett liegen. Ich war im Kino also immer in einem Zustand schrecklicher Angst. Wenn man Filme in einem solchen Zustand sieht, sind alle Filme Kriminalfilme. Manchmal mußte ich sogar vor Schluß des Films das Kino verlassen, wenn der Film zu lang war. Anschließend lief ich dann nachts durch das Viertel Pigalle, um vor den Eltern zuhause zu sein. Für mich ist schon die Tatsache, einen Film zu sehen, mit der Vorstellung von Schuld verbunden. Das erklärt sicher auch die Anziehung, die später Hitchcock auf mich ausgeübt hat. Er ist schließlich der Regisseur der Angst und des Schreckens par excellence. Ich wurde auch von Figuren angezogen, die sich schuldig fühlten. Aus diesen Gründen mochte ich Madame Bovary gleich sehr, ich habe mich sofort mit der Hauptfigur identifiziert. Ich habe nie Jules Verne gemocht, nie, was die anderen Jungen in meinem Alter lasen, wissenschaftliche Literatur oder Abenteuerbücher. Ich war damals schon ganz mit der Welt der Erwachsenen beschäftigt.

__________
*) veröffentlicht in: KINEMA. Augsburger FilmTaschenHefte, Heft 3-4, Augsburg, Dezember 1994, Seite 1 - 32.

Inhaltsverzeichnis


 
 Wie ein Gedicht lesen?
Über Rainer M. Gerhardt: der tod des hamlet   1)



Wer Lyrik schreibt ist verrückt,
wer sie für wahr nimmt, wird es.

- Peter Rühmkorf -
 

Kürzlich betrete ich die Metzgerei an der Ecke, es ist Freitagnachmittag, um ein Rumpsteak zu kaufen. Die Leute drängeln sich im Laden, aber die Frau des Metzgers läßt, kaum daß sie mich erblickt hat, das Messer fallen, holt aus der Schublade an der Kasse ein Stück Papier hervor und fragt mich, ob das von mir sei. Ich sehe mir den Text an und bin sofort geständig. Es ist das erstemal, daß mir die Metzgersfrau etwas zuwirft, was ich als einen flammenden Blick bezeichnen möchte. Unter dem Murren der anderen Kunden stellt sich folgendes heraus. Ich habe, ohne etwas davon zu ahnen, in das Leben der Metzgerstochter eingegriffen, die kurz vor dem Abitur steht. Man hat ihr im Deutschunterricht irgendeinen alten Text von mir vorgesetzt und sie aufgefordert, etwas darüber zu Papier zu bringen. Das Resultat: eine blanke Vier, Tränen, Krach in meines Metzgers Bungalow, vorwurfsvolle Blicke, die mich förmlich durchbohren, ein zähes Rumpsteak in meiner Pfanne. Mein schüchterner Hinweis auf den § 46, Absatz I des Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte vom 9. 9. 1965, BGBl. I S. 1273 ff., demzufolge »die Vervielfältigung und Verbreitung« zulässig ist, »wenn von Werken, Sprachwerke oder Werke der Musik von geringem Umfang, einzelne Werke der bildenden Künste oder einzelne Lichtbildwerke nach dem Erscheinen in eine Sammlung aufgenommen werden, die Werke einer größeren Anzahl von Urhebern vereinigt und nach ihrer Beschaffenheit nur für  den Kirchen-, Schul- oder Unterrichtsgebrauch bestimmt ist« - dieser Hinweis, der in einem überfüllten Metzgersladen ohnehin schwer vorzubringen ist, stieß auf entschiedenes Unverständnis und wurde mit der Rückfrage erwidert, warum ich eigentlich so sonderbare Sachen schriebe. Meine Sympathie für die Metzgerin und, was natürlich weit wichtiger ist, die Sympathie meiner Metzgerin für mich hat unter diesem Vorfall zum Glück nicht nachhaltig gelitten. In Mitleidenschaft gezogen wurde dagegen, bedauerlicherweise, meine Solidarität mit den Deutschlehrern.

Die Frage ist nicht, ob der Dichter Hans Magnus Enzensberger auf die Solidarität der Deutschlehrer angewiesen ist - wohl kaum. Zumindest chronologisch kommen zuerst die Dichter und dann die Deutschlehrer. Sollen wir nun den Mund halten und schweigen angesichts der Schönheiten der Poesie? - wohl kaum. Vielleicht aber sollten wir ein wenig mehr darauf achten, daß ein erklärtes Produkt der Freiheit wie das Gedicht nicht in zu viele Ketten geschlagen wird.

Eine Rose ist schön, das einzelne Rosenblatt ebenso. Und wenn mir ein Schüler sagt, wenn es aber dann bis in die Kohlenstoffatome gehe, könne er nicht mehr mitmachen, so muß ich ihm wohl doch recht geben. Und so sucht sich jeder seinen eigenen Weg. Vielleicht aber ist es möglich, eine Wegstrecke gemeinsam zu gehen. Versuchen wir es einmal ...

Sie werden gemerkt haben, daß die Unsicherheiten schon jetzt gehäuft auftreten. - Sie werden nicht verschwinden, womöglich noch zunehmen ... Wir werden sehen.

Zu klären wäre da zunächst die Frage: Wie finden wir unter den Milliarden von Gedichten eines, das es wert wäre, gelesen zu werden. Es kann also, wenn wir aufrichtig sind, nur dem mehr oder weniger subjektiven Zufall überlassen werden, welchen Text die Wahl trifft. - In meinem Fall greife ich ein Gedicht heraus, das mir zuerst in Horst Bingels Anthologie Deutsche Lyrik. Gedichte seit 1945 begegnete. 1965 kaufte ich mir dieses Buch in der dtv-Taschenbuch-ausgabe. Auf den Seiten 207-208 fand ich den zweiten Teil des Gedichtes der tod des hamlet von Rainer M. Gerhardt. Eine (vorerst) nicht zu erklärenden Faszination ging von diesem Gedicht aus. In den bio-/bibliographischen Anmerkungen fand ich folgende Notiz: RAINER MARIA GERHARDT, geb. 1927 in Karlsruhe, schied 1954 aus dem Leben. Seit 1948 Initiator der >gruppe der fragmente< und des gleichnamigen Verlages. Herausgeber der >fragmente. internationale revue für moderne dichtung<. Lyriker, Übersetzer, Verleger, Typograph. Ge-dichte u.a. in: >Expeditionen<, >Transit<. Veröffentlichungen: Der Tod des Hamlet, 1950; Umkreisung, 1952. Auch hier finden sich bereits falsche Angaben - das habe ich allerdings erst ein Vierteljahrhundert später gemerkt.

Was dieser Mann in sieben Jahren geleistet hat, was er wollte und woran er gescheitert ist, das steht auf einem anderen Blatt, in einem anderen Buch.

Zunächst beschaffte ich mir Wolfgang Weyrauchs Expeditionen und Walter Höllerers Transit, um mehr lesen zu können. Die Schwierigkeit an weitere Texte zu kommen waren (damals) zu groß, ich stellte meine Bemühungen ein, aber nicht die andauernde Lektüre der wenigen Gedichte. Heute ist meine Gerhardt-Sammlung so vollständig, wie sie unter den gegebenen Umständen sein kann.

Warum ich den Tod des Hamlet ausgesucht habe, wird (hoffentlich) klar werden nach der gemeinsamen Lektüre. Lesen wir aber zuerst einmal das Gedicht - und zwar in der Fassung, in der es 1952 erschien:

DER TOD DES HAMLET

  I
o staub von blut und wunden
in mittagshitz und glut
mit dürrem kraut verbunden

mit verlorenen salzen einer verlorenen erde
verloren um wiedergefunden zu werden
in einer anderen verheißung in einer
anderen darstellung nicht mit pinsel und feder
aufgehoben aus diesem nichts und
es erkennend

die blutroten blätter des lorbeer
künden ein anderes mahl
die fackeln stehen rings an den bäumen
gezweig hängt herab um die füße schlagen die kräuter
flammen zerrinnen abglanz der flamme zerrinnt
ufer brechen entzwei astwerk bricht und gezweige
leiber stehen auf und rasend mänadenschwarm
hornschlag und zimbel des tyrsus grünes gebein
mischt den gekreuzigten christus in das mysterium ein

was sage ich? das feld ist leer geblieben
die wüste dürr das graue land veraast
nun wird es zeit blätter vom wind getrieben
stieben hinauf und werden im samum zerrissen
finden sich wieder atom im unendlichen raum

was soll ich tun hier ist die erhaltung der masse
hier ist der grund auf den das wahre gebaut
hier ist das nichts das ich erfasse
die schwankungen in das unsichtbare

und wieder hier ist das haus
von uns gegründet an einem uferlosen strand
hier ist der weg der nichts verbindet
hier ist die luft hier ist das land

von dimensionen unserer gewöhnung
unserer vorstellung oder phantasie
ohne frage nach wirklichkeit dieser
wirklichkeit dieser wahrheit und
diesem sein und ich sehe die hand im
dreidimensionalen raum und sehe die
ausdehnung in zeit und sehe die
ausdehnung des gedankens und die
des willens die hand zu erheben
damit ein neuer raum erstehe die
einzige handlung die gewißheit zu sein
die nur gewiß ist in bewegung
der schwemmsand häuft sich in den niederungen
das große fest ist nun bereit
schon steigen male feuerzungen

o großes weib

die wir eingehen in deinen schoß
die wir gebenedeit sind
die wir den lingam besitzen
den lingam der gewißheit besitzen
die wir bereit sind
die wir zum feste geladen
die wir mit salböl gesalbt
die wir gereinigt auch an den intimsten stellen
die wir so feierlich
die wir voll gnade

große mutter granitenes gesicht

die wir voll freude
die wir nichts besitzen
die wir die gewißheit des nichts besitzen und ja sagen zu dieser gewißheit
die wir voll welt sind voll dieser umgrenzten welt sind
die wir voll freude sind über diese umgrenzte und ungewisse welt
die wir im jetzt sind
die wir im jetzt sind dem moment unserer weitesten ausdehnung unserer größten freude
die wir auf diesen moment aus sind
die wir auf diesen moment aus sind beim schreiben dieses gedichts
die wir darauf aus sind im augenblick unserer ergießung
die wir darauf aus sind bei allen dingen den kleinen und den großen
die wir voll freude sind in dieser welt der freudlosigkeit

o herrin mit dem blutenden maul der türkisenen liebe

die wir sind gedenken wir
der schrecken und der furcht vor schrecken
der opfer und der furcht vor opfer
der hoffnung und der furcht vor hoffnung

o maske glimmernd gesicht über den erhebungen der anden

  II
laß in der blauen luft die reiher fliegen
und in den dolden den zorn
laß im vergehen musik die vergangenen rühren
die wehen von der geburt des regens
niederrauschend an den stämmen von babylon
seder deine geschichte ist ähnlich
es zählt nicht die mutter des nil noch gelten
die schatten der ebenen des kahlen bergs wand
noch verlorene paradiese am gelben strand
es schläft die nacht ihren schlaf die zyklopen
sprengen die grüfte die götter
steigen herauf die schatten furien hört mich
die großen schatten der nacht der zeit
o sibylle die großen schatten von hier
und jetzt und immerzu vom augenblick
schreiend und selbstbewußt in steinernder ruhe in verlassnem gefild
 

  III
landschaften erheben sich vergilbte gemäuer
vergangenheiten in unbegriffenem licht
maßstab der hoffnung maßstab der trauer
maßstab der hoffnung in anderem licht

blatt über furien
blatt über leibern
blatt von dem nachtgrünen baum
unter dem die kulte der primitiven die
schreie des walds und das drehen der sonne
unaufhörlich des mohns trank der schlaf
und die vielfalt aller gedanken
jemals gedacht
wo ich hier bin
wo ich hier bin
wo ich hier bin in nachmittäglichem land
in der blauen luft der reseden
und des unkrauts geziefer dunkelnd die sonne
wo ich hier bin davor
atemlos kreischend dieses
sein aufgehoben in das licht einer betrachtung
einer auflösung in die abgründe der psyche
wo ich sagen sollte
was nie gesagt
wo es tagen sollte
was nie tagt
licht im grase
licht in luft
in der falbe
auf der straße
in der mitte blauer luft
niemals zu sagen der verschlossene mund
niemals zu sagen
die innere mauer des palasts zu peking
den gipfel des nanga parbat
den geheiligten palast zu lhasa
die 43 erleuchteten vor buddha dem einzigen
zu sagen was war und von dem
ein leuchten sich legt auf das
antlitz des heute
licht des vergangenen
licht von märchen und nicht von geschichte
die ampel aladins
in den gewölben der scheherezade
licht von märchen
und doch gemessen in eine festigkeit
die mich betrifft

immer noch dürsten in wäldern gestirne nach ihrer erlösung
immer noch wandert eine verwandelte schar durch die wüst her
schlagen vögel die lüfte von entsetzlichem ausmaß
zirpt ein einfaches instrument und hebt die schlang sich
wiegt sich in wind der uns nicht geheuer
in einem anderen anlauf zu kräften dunkeler herkunft
verwandt dem schlamme und dem schlagen der brandung an ufern
tangbedeckt überflogen von weißen fittichen
während von ferne ein einsamer gott ruft

o hamlet mein sohn hamlet

- - - - - - - - - - -

Im August 1950 erscheint in sechshundert Exemplaren in Karlsruhe von Paul Renner in Futura gesetzt und von Julius Engelberg gedruckt im 'verlag der gruppe der fragmente' der gedichtzyklus der tod des hamlet von Rainer M. Gerhardt. Fünfundzwanzig Exemplare wurden auf Büttenpapier abgezogen, numeriert und vom Verfasser signiert.

Bereits in Heft 3 der fragmente. blätter für freunde erschien eine erste Fassung dieses langen Gedichtes in fünf Teilen. Die Abweichungen von der Buchfassung sind geringfügig. Auffallend ist die Verwendung normaler Groß- und Kleinschreibung; Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen im allgemeinen den Regeln. Die Buchfassung verwendet eine radikale Kleinschreibung, ausgenommen sind die Eigennamen. Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen nicht mehr der Duden-Norm, sondern werden sinngemäß eingesetzt.

In den Abschnitten I und II finden sich keine Textänderungen. In Abschnitt III werden in der dritten Strophe die vier letzten Zeilen der Zeitschriftenfassung durch vier neue, thematisch verwandte ersetzt; in den Strophen 10 und 12 entfällt je eine Zeile. Die sieben letzten Zeilen dieses Abschnittes werden in der Buchausgabe durch drei neue Strophen ersetzt. Ansonsten gibt es nur zwei geringfügige Abweichungen, die den Gebrauch des Kasus betreffen. In Abschnitt V wird die letzte Strophe durch eine neue ersetzt; die Schlußzeile (»o hamlet mein sohn hamlet«) bleibt. Da die Änderungen in der Buchausgabe gegenüber der Zeitschriftenveröffentlichung die Tendenz der Aussage nicht wesentlich berühren, kann letztere bei einer näheren Betrachtung unberücksichtigt bleiben.

In Gerhardts zweitem Gedichtband umkreisung findet sich eine dritte, gekürzte Fassung des Gedichtes. Die Abschnitte I und II der Fassung von 1950 werden ersatzlos gestrichen; Abschnitt III entspricht nun Abschnitt I (IV = II; V = III). Die textlichen Veränderungen betreffen ausschließlich Abschnitt I (resp. III): ein Vers wird hinzugefügt, vier Verse der drittletzten Strophe entfallen, ebenso die letzte Strophe. Die Kleinschreibung wird weiter radikalisiert und die noch vorhandenen Satzzeichen werden gestrichen.

Eröffnet wird der erste Abschnitt des Gedichts durch einen psalmenartigen Gesang: eine ruhige Naturbeschwörung, die jedoch, zwar noch entfernt, den Schrecken und den Abgrund erahnen läßt, der sich im Fortgang des Textes auftun wird: »die bläuen sterben in den fahlen Himmeln.« Das »aber« der vierten Strophe verweist auf den Tod als einem zentralen Thema des Gedichts. Die Bilder sind düster und bekannt: »und das nest der ratten / und der tote schrei der silfe.« In diesem 'Naturbild' erscheint zweimal der Mohn, das erste Mal in Verbindung mit dem Adjektiv 'rot', das zweite Mal als »einfacher Mohn«. In beiden Fällen verweist er auf den Schlaf, den 'Bruder des Todes'. Die Stimmung dieses Abschnittes wirkt seltsam zerdehnt und dunkel; ein Vergleich mit Trakls Herbstgedichten drängt sich auf. Es ist nichts sicher, der Boden unter den Füßen schwindet, und es schwindet der

einzig sicher[e] grund der verfestigung
das märchen jeder geschichte und metaphysik
die wundervolle erfindung wundervoller spielzeuge
die logische deutung und der aufbau
das gläserne spiel

Das, was ist und erkannt werden kann, ist das Nichts, auf das sich alles gründet, von dem alles sein vermeintliches Leben bezieht, das von Anfang an verbunden ist mit dem »gellenden Läuten der Schuld«.

daß ich es bin und erkenne und weiß
das einzige, nihil
      welches das nichts ist.

Die bereits im ersten Abschnitt angedeutete Verknüpfung von Bildern und Metaphern aus den Bereichen der abendländischen und nicht-abendländischen Kulturen setzt sich im zweiten Abschnitt verstärkt fort. Ob es das Alte Testament ist (»die stürme Jesaijas«) oder die Antike (das delphische Orakel, Bacchus, die Erinnyen) oder Shakespeare (Hamlet, King Lear): die Beziehungen zwischen diesen vielfältigen Andeutungen sind nicht immer klar zu erkennen, der Verweis deutet manchmal ins Dunkel einer literarischen Topographie, die kaum zu rekonstruieren ist.

Das Tempo dieses Abschnitts ist atemberaubend. In den Strudel der Zitate, Anspielungen und Metaphern wird der Sprecher und mit ihm der Leser hineingezogen. Ein Entkommen scheint nicht möglich; ein Rettung aus dem Wirbel der Tradition ist nur eine vage Hoffnung:

...
und die balken stürzen zur tiefe
die sümpfe kreischen - der ich die welt
umfassend - gemeinsam - in kreisen -
die das vollkommene - o atmet mich ein ihr
aeolischen gefilde, werft mich aus
         wellen am kymrischen strand.

In den Wirren der Zeit geschunden (»in finstere schatten gestellt«) schaut der Sprecher aus nach einem Ort, an dem er bleiben, der ihm 'Heimat' sein kann. Der Blick geht zurück.

An dieser Stelle sei Grundsätzliches gesagt: Die Herkunft aller Anspielungen aufzudecken kann nicht Aufgabe einer sinnvollen Deutung sein. Meist sind sie so dunkel wie häufig das Gedicht. Hinzukommt, daß die Verknüpfungen dieser zahllosen Anspielungen zumeist derart subjektiv sind, daß auch hier Eindeutigkeiten kaum zu erzielen sein werden. Wichtig erscheint die Richtung, die eingeschlagen wird. Es ist, wie bereits gesagt, der Weg hin zu einem Ort, zu einem Raum, der alle Traditionen und die Gegenwart verbindet. Der dadurch zwangsläufig subjektiv bleibende Blick des Leser muß sich ebenfalls seine Richtung, seinen Ort suchen. Ob er ihn dort findet, wo Gerhardt ihn fand, bleibt ohne Belang.

Den Beginn des dritten Abschnitts möchte ich ein wenig genauer betrachten, da er wesentliche Aussagen über das Selbstverständnis des Dichters macht.

Sicher bewußt und mit einer zielgerichteten Absicht zitiert Gerhardt in der ersten Strophe das Gedicht An das Angesicht des Herrn Jesu des Barockdichters Paul Gerhardt.

o staub voll blut und wunden          O Haupt voll Blut und Wunden,
in mittagshitz und glut                      Voll Schmerz und voller Hohn,
mit dürrem kraut verbunden            O Haupt zum Spott gebunden
                                                      mit einer Dornenkron.

Bereits die Umwandlung von 'Haupt' in 'staub' deutet die Profanisierung an, die in der dritten Zeile konsequent weitergeführt wird. Das 'dürre Kraut' evoziert den »in mittagshitz und glut« verdorrten Lorbeerkranz des Dichters. Die erste Zeile der dritten Strophe (s.u.) gibt dieser Deutung recht. Die Gleichsetzung von gekreuzigtem Christus und Dichter ist nur auf den ersten Blick blasphemisch. Denn - nimmt man die Auffassung Gerhardts von der 'Mission' des Dichters wirklich ernst - ist sie durchaus zu rechtfertigen. Beide opfern sich stellvertretend auf für die, die ihnen 'anvertraut' sind.

Der geschundene 'staub' der Poesie ist nicht nur verbunden mit kümmerlichem Lorbeer, sondern auch

mit verlorenen salzen einer verlorenen erde
verloren um wiedergefunden zu werden
in einer anderen verheißung in einer
anderen darstellung nicht mit pinsel und feder
aufgehoben aus diesem nichts und
es erkennend.

Dieses Nichts erkennen bedeutet, es zu beherrschen und zu überwinden.

die blutroten blätter des lorbeer
künden ein anderes mahl

Der Dichter trägt keine Dornen-, sondern eine Lorbeerkrone, deren Blätter allerdings blutrot gefärbt sind. Und wenn wir an Gerhardts Auffassung von der Bedeutung  der Dichtkunst für den Dichter denken, wie er sie in seiner Rundschau der fragmente entwickelt hat, so beschwören die beiden zitierten Verse die tödlichen Folgen dieses Handelns: »Ein vers von erheiternder pracht und grosser faszination kann morgen das todesurteil seines dichters sein. Das 'Mahl' des Dichters ist kein Segen und Auferstehung verheißendes 'Abendmahl', sondern, wie uns der Fortgang des Gedichtes zeigt, ein Furcht und Schrecken bringendes, an dessen Ende christliches und antik-heidnisches Mysterium sich vermischen:

...
leiber stehen auf und rasend mänadenschwarm
hornschlag und zimbel, des tyrsus grünes gebein
mischt den gekreuzigten christus in das
       mysterium ein.

Die extrem gefährdete Position des Dichters kann ihn allerdings nicht dazu verleiten, nicht zu seiner Pflicht zu stehen, auch wenn Gegenwart und Zukunft wenig verheißungsvoll sind. Aus dieser Situation zu seinem Volk zu sprechen - das ist unaufgebbare Verpflichtung:

...: hier ist das haus
von uns gegründet an einem uferlosen strand
hier ist der weg der nichts verbindet
hier ist die luft hier ist das land

Diese Worte aus dem Mund eines Zweiundzwanzigjährigen klingen in unseren Ohren pathetisch. Bedenkt man aber die Zeit und ihre extremen Herausforderungen, so erscheinen sie uns auch heute durchaus verständlich. Auf den Trümmern einer Zivilisation das Neue aufbauen zu wollen, ist eine Aufgabe, die die Kräfte eines einzelnen sicherlich übersteigt. In seinem Reich der Wörter baut der Dichter auf den Trümmern der Tradition eine neue Poesie:

von dimensionen unserer gewöhnung
unserer vorstellung oder phantasie
ohne frage nach wirklichkeit dieser
wirklichkeit dieser wahrheit und
diesem sein und ich sehe die hand
im dreidimensionalen raum und sehe die
ausdehnung in zeit und sehe die
ausdehnung des gedankens und die
des willens die hand zu erheben
damit ein neuer raum erstehe, die
einzige handlung die gewißheit zu sein
die nur gewiß ist in bewegung.

Es geht darum, das was ist, neu zu sehen. »Es geht um die Sauberkeit des Denkens und Han-delns schlechthin«. Denn nach Gerhardts Auffassung ist das Gedicht nie losgelöst von der Wirklichkeit, und nur der wird die Wirklichkeit in sein Gedicht bekommen, der in der Lage ist, sie neu zu sehen, damit ein 'neuer raum entstehe', in dem die Menschen leben können. Die 'feuerzungen' einer neuen Sprache der Poesie steigen bereits herauf.

Der auf diese 'neue Poetik' folgende Teil des dritten Abschnitts des Gedichts ist gebaut wie eine große Beschwörung. Angerufen wird eine nicht weiter identifizierbare weibliche Figur. Die Anrufungen, beginnend mit »o großes weib«, werden immer unbestimmter, rätselhafter (»o große mutter granitenes gesicht« (...) »o herrin mit dem blutenden maul der türkisenen liebe«). Die letzte Anrufung wendet sich an ein nur noch nebelhaft, in Umrissen vorhandenes Bild: »o maske glimmernd gesicht über den erhebungen der Anden«. Den Anrufungen entsprechend gebaut sind die sich anschließenden 'Gesänge' (Litaneien). Das 'große Weib' ist die Mutter der Fortpflanzung, des Weiterexistierenkönnens, der Sexualität. Hinduistische (»die wir den lingam besitzen« und jüdisch-christliche Vorstellungen (»die wir mit salböl gesalbt« vereinen sich in dieser matriarchalischen Anrufung der Geschlechtlichkeit. Das 'granitene Gesicht' löst eine auf den ersten Blick nihilistisch anmutende Litanei aus: »die wir die gewißheit des nichts besitzen und ja sagen zu dieser gewißheit«. Aber nur der erste Blick vermag hier eine negative Position zu erkennen, denn die, die hier 'beten' / 'bitten', sagen von sich: »die wir voll freude sind in dieser welt der freudlosigkeit«. Die 'Herrin mit dem blutenden Maul und der türkisenen Liebe', ein nun wirklich erschreckendes Bild, vereint die »tempel beider hemisphären und / ihrer priester und priesterlichen diener / der schrecken und der furcht vor schrecken ...«. Die 'Maske' letztendlich verflüchtigt alles ins Ungewisse, Dunkle: »damit dem geheimnis gegeben / was des geheimnisses ist«. Die Anspielung auf Markus 12,17 ist eindeutig.

Die vier 'Litaneien' illustrieren mit großen und überzeugenden Bildern Ursprung und Ziel der Dichtung, so wie sie Gerhardt verstand. Geschlechtlichkeit, Weltsicht / Weltdeutung, Religion und Geheimnis sind die Wurzeln des Gedichts, der Boden, aus dem Poesie entspringt.

Der vierte Abschnitt vereinigt in einer kleinen Apokalypse wieder Bilder aus allen Kulturen und Zeiten: »... die zyklopen / sprengen die grüfte. die götter / steigen herauf«. Es geht hier um mehr als um die äußere Situation eines Menschen in einem von Krieg und Nachkrieg zerstörten und verwilderten Land. Den Menschen ist die psychische Grundlage entzogen. Was ist, ist Nacht und Schatten:

o sibylle die großen schatten von hier
und jetzt und immerzu vom augenblick
schreiend und selbstbewußt in steinerner ruhe
         in verlassenem gefild.

Doch es gibt Vergangenes, auf dem aufgebaut werden kann. Vier Jahre nach dem 'Ende' des Nationalsozialismus mit seiner Vergangenheitsvergewaltigung versucht ein junger deutscher Dichter im fünften und letzten Abschnitt eines langen Gedichtes, ein neues, tragendes Bild der Vergangenheit, der Tradition zu entwerfen:

landschaften erheben sich vergilbte gemäuer
vergangenheiten in unbegriffenem licht:
maßstab der hoffnung maßstab der trauer
maßstab der hoffnung in anderem licht.

Und er liefert eine deutliche und präzise Selbstbeschreibung. Wie bereits im zweiten Abschnitt gerät der Sprecher in einen Taumel bei der Suche nach seiner 'Heimat', nach dem Ort, der sein Ort ist. Während er dort seinen Platz in der Tradition sucht, findet er ihn hier in seinem 'nachmittäglichen Land', in dem noch immer das 'Ungeziefer' (der Vergangenheit) bestimmend ist:

wo ich hier bin
wo ich hier bin in nachmittäglichem land
in der blauen luft der reseden
und des unkrauts geziefer dunkeln die sonne
wo ich hier bin - davor -
atemlos - kreischend - dieses
sein aufgehoben in das licht einer betrachtung
einer auflösung in die abgründe der psyche
wo ich sagen sollte
was nie gesagt
wo es tagen sollte
was nie tagt

Und es werden wieder die für einen Leser der Zeit sicherlich exotischen Bezugspunkte des nahen und fernen Orients beschworen: »die innere mauer des palastes zu Peking«, »die 43 erleuchteten vor Buddha dem einzigen« und »die ampel aladins«; »licht von märchen / und doch gemessen in eine festigkeit / die mich betrifft«. Das 'nachmittägliche Land' des Dichters und das 'Licht von Märchen' werden verknüpft zu einer unauflöslichen Einheit, die (vielleicht!) in der Lage ist, das was geschah, in Zukunft ungeschehbar werden zu lassen. Es ist diese Verknüpfung von konkretem Gegenwartsbezug und Rückgriff auf eine Vergangenheit, die unverfälscht und wirklich begriffen ist, die Rainer M. Gerhardt zu einem Dichter macht, der politisch wirkt.

Es muß an dieser Stelle noch einmal deutlich gesagt werden, daß es Gerhardt nicht darum geht, ein politischer Schriftsteller zu sein, der sich ins Tagesgeschehen einmischt und den vielen anderen vorhandenen Stimmen noch eine mehr oder weniger wichtige hinzufügt. Es geht ihm darum, Gedichte zu schreiben, die in der Gesellschaft, 'in der Gemeinschaft', wie er sagen würde, politisch wirken können. Seine Zeitbeschreibung ist zuerst poetisch und dann aber auch politisch:

immer noch dürsten
          in wäldern gestirne nach ihrer erlösung
immer noch wandert
          eine verwandelte schar durch die wüst her
schlagen die vögel die lüfte
          von entsetzlichem ausmaß
zirpt ein einfaches instrument
          und hebt die schlang sich
wiegt sich in wind der uns nicht geheuer
in einem anderen anlauf
          zu kräften dunkler herkunft
verwandt dem schlamme
          und dem schlagen der brandung an ufern
tangbedeckt überflogen von weißen fittichen
während von ferne ein einsamer gott ruft.
o hamlet mein sohn hamlet.

Die Ungewißheit des Vorhabens ist offensichtlich. Die Bilder sprechen, obwohl manchmal dunkel, eine klare Sprache. Und der 'einsame Gott', der Schöpfer, der wirkliche 'Autor', ruft seinen Sohn, den Autor welt- und sinnstiftender Bilder und Bildwelten. Ohne diesen Sohn, der sein Werk fortführt, bleibt er einsam. Daß dieser Sohn Hamlet heißt, ist nicht nur ein Hinweis auf Tradition, nicht nur literarisches Zitat. In diesem Namen kristallisiert sich, was Heiner Müller - zusammenfassend - so formuliert hat und was sich wie eine Charakteristik Rainer Maria Gerhardts und seines Textes liest:

HAMLET ist ein Lustobjekt der Interpreten. Für Eliot die Mona Lisa der Literatur, ein mißlungenes Stück: die Reste des Rächerdramas, marktgängiges Zeitgenre wie heute der Horrorfilm, ragen sperrig in die neue Konstruktion, behindern Shakespeares Material in der Entfaltung. Ein Diskurs, den das Schweigen bricht. Die Dominanz der Monologe ist kein Zufall: Hamlet hat keinen Partner. Für Carl Schmitt ein bewußt, aus politischen Gründen, verwirrter und verdunkelter Text, begonnen in der Regierungszeit der Elisabeth, abgeschlossen nach der Machtübernahme des ersten Stuart, Sohn einer Mutter, die den Mörder ihres Mannes geheiratet hatte und unter dem Beil starb, eine Hamletfigur. Der Einbruch der Zeit in das Spiel konstituiert den Mythos. Der Mythos ist ein Aggregat, eine Maschine, an die immer neue und andere Maschinen angeschlossen werden können. Er transportiert die Energie, bis die wachsende Beschleunigung den Kulturkreis sprengt.

In seinem Dialog über neue deutsche Lyrik zitiert Wolfgang Weyrauch den dritten Abschnitt der kürzeren Fassung (= Abschnitt V der Langfassung) und vergleicht ihn mit Gedichten von Robert Berliner. Er kommt zu folgendem Ergebnis:

Beide, Gerhardt und Berliner, topographieren, das heißt, sie halten sich an die Zeit, und an den Ort. Sie benennen sie, sie verwörtlichen sie. Das ist das Problem bei ihnen. Aber sie halten sich beim Signalement nicht auf, sie schreiben es ins Geheimnis hinüber. Und das ist die Litanei bei ihnen. Sie schreiben die Einzelheiten der Wirklichkeit auf, doch sie multiplizieren diese Materialien so scharadenhaft, daß sie zum Surrealismus gelangen.

Allerdings, so muß man hinzufügen, handelt es sich bei der tod des hamlet nicht um das, was gemeinhin unter Surrealismus verstanden wird. Es geht vielmehr darum, mit Hilfe der unendlich vielen Versatzstücken aus Tradition und Gegenwart ein 'Haus für den Leser' zu bauen. Daß die oft verwirrenden Zahl von 'Einzelbausteinen' surreal wirkt, liegt mit Sicherheit nicht an der Traumhaftigkeit des Gesagten, sondern an der häufig nicht vorhandenen geistigen Gegenwart dieser fast 'unendlichen' Tradition.

Beide Autoren sind genötigt (...) Gehäuse zu errichten, ihre Gedichte nämlich, in die sie nichts hineinlassen, was nicht zu ihnen gehört. Diese Gebäude werden so integer, daß die profanen Litaneien, die ich erwähnte, zu Bannsprüchen werden.

Das Gedicht als 'Gehäuse', wie Weyrauch es nennt, wird 'WohnRaum' für den Leser; hier findet er seinen Ort.

Ich habe nicht jedes Wort, nicht jede Zeile, nicht jede Strophe interpretiert. Ich habe nur die herausgesucht, die mir für das Verständnis des Textes wichtig waren. Nicht alle Verse sind mir gleichermaßen zugänglich - heute; aber vielleicht in zehn Jahren - wer weiß?! - Nur eins weiß ich: "Der Tod des Hamlet" wird mich weiterhin begleiten, weil er die Dinge des Lebens formu-liert und problematisiert, die für mich wichtig sind.
 

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Deshalb zum Abschluß noch zwei Aussagen Rainer M. Gerhardts darüber, was ein Dichter und was Dichtung ist: Beängstigende Worte, die beunruhigen, die wachhalten und aufmerksam machen, die also das erreichen können, was mir mit meinen Worten vielleicht nicht gelungen ist:

Was ist ein Dichter?

Was haben wir zuerst? Einen Menschen, der Gedichte schreibt. Was ist das: ein Mensch, der Gedichte schreibt? Erstens, ein Wesen, ein lebendiges Wesen, das eine bestimmte Konstitution besitzt und sich verhält. Zweitens: ein Wesen, das ganz bestimmte Verhaltensweisen besitzt, gebend - nehmend, es wird durch sein Verhalten geprägt und prägt sein Verhalten. Es gibt diesem Verhalten, das sich konstitutionell, materiell, ideell oder in sonstiger Weise manifestiert, artikulierten Ausdruck, und zwar in ganz bestimmter und vom Normalmenschen unterschiedlicher Weise.
Ich sagte, ein Wesen, das sich verhält, da ist es vorbei mit dem Spuk vom allein träumen und keine Beziehung haben. Vorbei mit der Rührung, dass man sogar intim und im Bett keinen Kontakt habe, niemals gespürt die Erregung des anderen, niemals in der gleichen Sekunde den gleichen Gedanken gehabt wie der andere. Man kann nur sagen: Verkümmerung oder Pappe. Eine durchaus anatomische und erklärbare Erscheinung. Aber kein Grund für Zeitalteranalysen vom Standpunkt der Verkümmerung, keine Veranlassung, Dinosauriergewohnheiten als letzte Erkenntnis und Manifestation über Dichtung auszugiessen. Der Kontaktlose als Ideal einer verarmenden und ratlosen Generation.

 

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Was ist Dichtung?

Ein dichter mag gestimmt werden durch die luft eines besonderen kulturellen raumes, er mag angefüllt sein mit den bildern und wirren dieses raumes, aber sein bewußtsein wird sich über diesen raum erheben und wird seine erfahrungen suchen auch in anderen bereichen. Das abenteuer des geistes hat neu begonnen, es mag vielleicht schon für tot erklärt worden sein. Dichtung ist heute ein lebensgefährliches beginnen, die schreckschüsse der dadaisten sind noch nicht verhallt, und eine furchtbare wahrheit steigt herauf, ein vers von erheiternder pracht und grosser faszination kann morgen das todesurteil seines dichters sein.